Abschied von der Avantgarde |
Wolfgang Ullrich
Die gute alte Zeit – vielleicht wird damit einmal weniger die Vergangenheit im Allgemeinen als eine bestimmte Periode gemeint sein: Das letzte Jahrzehnt des zweiten nachchristlichen Jahrtausends sei, wenigstens in der westlichen Hemisphäre, ein einzigartiger Moment des Wohlstands, der Freiheit und Sicherheit gewesen; nie zuvor hätten die Menschen so unbeschwert in Frieden gelebt und nie sonst so viele Möglichkeiten gehabt, sich ihre Wünsche zu erfüllen. Eine kurze Phase fast uneingeschränkten Glücks sei das gewesen. Wer hier widersprechen oder wenigstens ein paar Einschränkungen formulieren möchte, sollte bedenken, dass dies die Sicht künftiger Historiker sein könnte, die unter gewandelten Umständen leben und forschen. Sie tun ihre Arbeit eventuell in einer Welt, in der die Staaten weitgehend erodiert sind, während fundamentalistische Sekten, globale Konzerne, radikal gewordene Nichtregierungsorganisationen und Banden organisierter Kriminalität um Gewaltmonopole kämpfen; wenigen Reichen steht dann eine weitgehend verarmte Bevölkerung gegenüber, da viele Menschen ihr Vermögen bei Banken-Crashs verloren haben und die sozialen Sicherungssysteme kaum noch funktionieren; auch von den Garantien, die rechtsstaatliche Verfassungen ehedem boten, ließe sich nur noch träumen. Eine Mehrzahl der Historiker könnte dabei der Auffassung sein, dass Gesetzesverschärfungen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Bürgerrechte einschränkten, ein letztes Aufbäumen staatlicher Ordnungsmacht darstellten, schließlich aber als Auslöser größerer Protestbewegungen wirkten und anarchistische Strömungen forcierten. Und da Historiker dazu neigen, Epochen zu identifizieren und streng voneinander abzugrenzen, würden sie auch versuchen, ein klares Datum für das Ende der guten alten Zeit anzugeben. Nicht unwahrscheinlich, dass sie sich auf die verkorkste US-Präsidentschaftswahl im November 2000 oder aber auf den 11. September 2001 einigen. Bereits nach wenigen Jahrzehnten erschienen die 1990er-Jahre in einer solchen Zukunft unendlich weit weg. Die dann Älteren stimmten die Erinnerungen daran vermutlich depressiv, zumal ihnen klar wäre, dass zu ihren Lebzeiten nie wieder ein solches Maß unbeschwerter Lebensqualität erreichbar sein würde. Selbst diejenigen, die sich in ihrer Jugend wohlstandskritisch geäußert hatten, würden dazu neigen, die damalige Zeit ins Mythische zu verklären, in ein Paradies aus Farbe und Frieden. Einige historisch Interessierte – wohl eher aus der jüngeren Generation – könnten es sich dann eigens zur Aufgabe machen, die Mentalität jener einzigartigen und kurzen Wohlstandsperiode zu erforschen: Mit möglichst vielen Zeitzeugnissen suchten sie herauszufinden, wie sich die Menschen damals – im Unterschied zu anderen Epochen – fühlten, wie sie dachten, welche spezifischen Erfahrungen und Phänomene ihnen begegneten und wie sie sich diese bewusst machten. Aufzeichnungen von Fernsehsendungen und archivierte Zeitschriften, aber natürlich auch die Kunst und Literatur, die Musik, das Design und die Mode der 1990er-Jahre dienten ihnen dabei als wertvolle Dokumente. [...]
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