Über das Museum der Gegenwartskunst |
Boris Groys
Der Begriff »Museum für Gegenwartskunst« ist zwar inzwischen allgemein vertraut geworden. Aber er bleibt trotzdem paradoxal und markiert eine grundsätzliche Neuorientierung unseres Blicks auf die Institution Museum. Das Museum funktionierte nämlich traditionell als Ort, an dem die Zeugnisse der Vergangenheit gesammelt und zu einem Gesamtbild zusammengefügt wurden, das als gesellschaftlich verbindliche Repräsentation der Geschichte galt. Was bedeutet aber die Aufgabe, die Gegenwart museal zu repräsentieren – eine Aufgabe, die sich das Museum für Gegenwartskunst offensichtlich stellt? Auf den ersten Blick scheint jeder Versuch, diese Aufgabe zu bewältigen, von Anfang an zum Scheitern verurteilt zu sein, denn diese Aufgabe ist paradoxal: Wie dicht an der Gegenwart auch immer die neue Kunst gesammelt werden soll, scheint eine solche Sammelpraxis immer zu spät zu kommen – und zumindest einen Schritt hinter der Gegenwart bleiben zu müssen. Diese strukturelle Verspätung der Sammlung in Bezug auf den Augenblick der Gegenwart schließt die Möglichkeit eines Museums für Gegenwartskunst scheinbar aus: Die »reale«, gegenwärtige Kunstentwicklung kann demnach nicht von der Bewegung der sammelnden Repräsentation aufgeholt werden. Der Augenblick der reinen Präsenz, des authentischen Jetzt wird durch seine Musealisierung zur Vergangenheit. So kann man sagen: Das Museum ist vielleicht imstande, das Gestern zu sammeln – aber nicht das Heute. Der Begriff »Museum für Gegenwartskunst« scheint somit einen Anspruch zu suggerieren, der grundsätzlich nicht eingelöst werden kann. Dadurch scheinen die Argumente, die in der Moderne traditionell gegen die Institution Museum gerichtet wurden, eine neue Überzeugungskraft zu gewinnen. Die avantgardistischen Argumente gegen die Institution Museum sind gut bekannt: Die Museen sind demnach Grabstätten der alten Kunst, die unseren Blick auf die Gegenwart verstellen. Die wahrhaft aktuelle, gegenwärtige Kunst soll im Leben wirken – sie soll die Lebenswelt, die Gefühle, die Wahrnehmungen, die soziale Realität ihrer eigenen Zeit gestalten. Wird eine solche lebendige Kunst durch das Museum, wie man so sagt, »vereinnahmt«, so kann sie diese Aufgabe nicht mehr erfüllen, da sie dadurch in ihrer Wirkung neutralisiert – und zum Gegenstand einer distanzierten, rein ästhetisch motivierten, »harmlosen«, retrospektiven Betrachtung degradiert wird. |