just what is it... Modern Art? |
Peter Weibel
Die moderne Kunst ist vor allem eine Erzählung, eine jener großen Erzählungen, von denen Jean-François Lyotard in seiner berühmten Studie Das postmoderne Wissen[1] behauptete, ihre Zeit sei vorüber. Diese »Verabschiedung«,[2] die erklärterweise zur kurzen Epoche der Postmoderne führte, war aber offensichtlich zu voreilig. Die Geschichte der modernen Kunst ist nämlich eine unglaubliche Erfolgsgeschichte.[3] Das macht sie unter anderem so attraktiv. Wenn alle Künstler sind[4] und alles Kunst ist,[5] wie die moderne Kunst behauptet, ist Kunst eine Verheißung, die jeden glücklich macht. Wer möchte solchen Versprechen widersprechen? Auch diese Verführung macht moderne Kunst so attraktiv. Die Moderne begann damit, dass Marcel Duchamp um 1915 ein Objekt signierte, das er weder ersonnen noch hergestellt hatte. Es wurde, auch wenn es nicht einmal seine Idee war, damit zum Kunstwerk. Seine Idee war lediglich gewesen, dieses Objekt, und somit jedes beliebige andere, durch seine Signatur in einem nominalistischen Sprechakt zum Kunstwerk zu erklären und es damit tatsächlich zu einem solchen zu machen. Wie Donald Judd 1966 bestätigte: »Wenn jemand bestätigt, dass seine Arbeit zur Kunst gehört, dann ist es Kunst.«[6] Die Selbstbehauptung des Individuums als Künstler besteht darin, wie Bazon Brock uns lehrte,[7] dass ein Individuum mit einer demonstrativen Geste einen Gegenstand oder Vorgang zum Kunstwerk erklärt, und nachdem bewiesen beziehungsweise zugestimmt wurde, dass ein Kunstwerk vorliegt, rückwirkend auch das Individuum zum Künstler wird. Denn natürlich bedarf es in einem zweiten Schritt nicht nur der Überzeugung des Künstlers, sondern auch der Gesellschaft, die diesem Akt der Behauptung zustimmt, dass es sich um Kunst handelt. Was Kunst ist und was nicht, was gute und was schlechte Kunst, wird also nicht nur vom Individuum, sondern auch von den Institutionen der Gesellschaft (Zeitungen, Galerien, Museen) bestimmt. Bei der Kunst handelt es sich somit um ein Legitimationsproblem; und zu den Experten der Legitimation zählen bekanntlich die Kritiker. Deren Urteil ist jedoch selten übereinstimmend. Nehmen Sie eine x-beliebige Großveranstaltung, zum Beispiel die documenta 12 in Kassel 2007 oder die Biennale von Venedig 2009, so finden Sie in Massenmedien wie in Fachzeitschriften genauso viele zustimmende wie ablehnende Berichte. Was für die einen ein langweiliges »Déja-vu«-Erlebnis ist, wirkt auf die anderen aufregend und innovativ. Auch in der Beurteilung einzelner Pavillons und Künstler ist die Berichterstattung voller Widersprüche.[8] Wir sehen, die Freiheit der Kunst erstreckt sich nicht nur auf die Künstler, sondern auch auf Kritiker und Publikum. Jedem steht es selbstverständlich frei, seine eigene Meinung zu haben. Auch in der Kritik kann jeder machen und sagen, was er will. Und jeder behält recht. Wenn schon jeder ein Künstler sein kann, was immer er auch macht, warum nicht auch der Kritiker? Selbstverständlich kann auch jeder Kritiker sein, was immer er schreibt und welche Meinung auch immer er vertritt. Auch das macht die moderne Kunst so attraktiv. [...] [1] Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris (Éditions du Minuit) 1979. Dt. Ausg.: Das postmoderne Wissen, Wien (Edition Passagen) 1999. [2] Vgl. T. J. Clark, Farewell to an Idea. Episodes from a History of Modernism, New Haven (Yale University Press) 1999. [3] Sogar die Verfolgung dient dem Erfolg. Nach der Diffamierung und Verfolgung der modernen Kunst als »entartete Kunst« (1937 in den Hofgartenarkaden, München eröffnet; es folgte bis 1941 eine Wanderausstellung unter demselben Titel in zwölf weiteren deutschen Städten) in Nazi-Deutschland steht die moderne Kunst unter einer immunisierenden Schutzglocke, denn jede Kritik an der modernen Kunst fällt seitdem reflexhaft unter den Generalverdacht des Faschismus. Die Verfolgung ist somit auch ein Faktor des Erfolgs der modernen Kunst. [4] »Jeder Mensch ist ein Künstler.« (Joseph Beuys, 1970) [5] »Alles ist Kunst; Abwesenheit der Kunst = Kunst.« (Schrifttafel von Ben Vautier, um 1960) [6] Donald Judd, Écrits 1963–1990, Paris (D. Lelong) 1991, S. 22. Übersetzung aus dem Französischen. [7] »Ein Künstlerindividuum ist, wer eine Aussage ausschließlich durch sich selbst begründet.«, Bazon Brock, Lustmarsch durchs Theoriegelände-Musealisiert Euch!, Köln (DuMont) 2008, S. 362. [8] Vgl. Kunstjahr 2009, Regensburg (Verlag Lindinger + Schmid) 2009, S. 30–32.
|