ZKM | Museum für Neue Kunst  05.12.2009 - 11.04.2010
 
100 Jahre Kunst der Moderne
aus privaten Sammlungen in Baden-Württemberg
10 Jahre Museum
für Neue Kunst im ZKM

Sammlung Charlott & Tistou Kerstan, Murg
Die Sammlung von Charlott und Tistou Kerstan wurde 1960 gegründet, im selben Jahr, in dem die begeisterte Kunstliebhaberin und der noch junge Kunstsammler heirateten. Tistou Kerstan, 1928 in Köln geboren, hatte bereits zwei Jahre zuvor erste Schritte als Sammler gewagt und expressionistische Druckgrafik erworben. Seine Tätigkeit als Garten- und Landschaftsarchitekt resultierte ebenfalls aus seiner Begeisterung für Kunst, denn eine Begegnung mit dem Landschaftsarchitekten Professor Hermann Mattern bei Pablo Picassos Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler hatte ihn zur Aufnahme des Studiums der Landschaftsarchitektur bewogen.

Der gemeinsame Aufbau der Sammlung ermöglichte dem Paar zahlreiche Begegnungen mit Künstlern, Sammlern und Galeristen, und dies in einer Phase, in der der Kunstmarkt noch frei von jeglicher Nervosität und spektakulärem Glamour war. Die 1960er-Jahre  war die Zeit des Connaisseurs und des kunstsinnigen Austauschs, während der es zu Treffen mit Jürgen Brodwolf (* 1932), Bernard Schultze (1915–2005) und ­Julius Bissier (1883–1965) oder zu Besuchen im Atelier Marc Chagalls (1887–1985) in Saint-Paul-de-Vence in Südfrankreich kam. In den 1970er-Jahren folgten Begegnungen mit Andreas Jawlensky dem Sohn des Malers Alexej von Jawlensky (1865–1941), und dessen Frau in Locarno, woraus wiederum ein Zugang zum Münter-Nachlass möglich wurde. Ebenso entstand eine enge Freundschaft zu Felix Klee, dem Sohn Paul Klees (1879–1940), und Ende der 1980er-Jahre folgte die Bekanntschaft mit Max Bill (1908–1994).

Bereits 1956 lernte die Spezialistin für Augenheilkunde Charlott Kerstan, 1924 in Hannover geboren, in ihrer Praxis die Künstlerin Ida Kerkovius (1879–1970) kennen. Diese Begegnung markiert unter anderem den Beginn der Sammlung, da sie zur Folge hatte, dass Werke von Adolf Hölzel (1853–1934) sowie von dessen Schülern Willi Baumeister (1889–1955) und Oskar Schlemmer (1888–1943) erworben wurden. »Hölzel schuf ein großes, komplexes Werk, das wir von Anfang bis Ende zu erfassen wünschten: aus eben diesem Grund umfasst unsere Sammlung fünfzig seiner Werke, sowohl Ölgemälde als auch Pastelle und Zeichnungen.«

Einen deutlichen Schwerpunkt der Sammlung bildet die Druckgrafik. Neben einer bemerkenswerten Serie von Selbstporträts Max Beckmanns (1884–1950) sind darin auch lithografische Werke von Pablo Picasso (1881–1973) zu finden. Ende der 1960er-Jahre entdeckten Charlott und Tistou Kerstan ihre Liebe­­ zum deutschen Expressionismus, die auch in der Sammlung ihren Ausdruck findet. Sie konzentrieren sich auf Werke aus dem Umfeld des Künstlerkreises der Blaue Reiter und die Brücke, aber auch Positionen der Neuen Sachlichkeit sind mit einzelnen Arbeiten dokumentiert.

Es ist evident, dass die Sammlung keinen repräsentativen Einblick in das Œuvre eines einzelnen Künstlers bieten möchte. Ihre Besonderheit liegt vielmehr darin, dass es sich um eine Kollektion handelt, die Einblicke in eine wahrhaft passionierte Sammlertätigkeit vermittelt. Tistou Kerstan spricht ganz offen über seine Überlegungen und die Schritte, die es mit dem Erwerb jedes weiteren Werkes für die Sammlung abzuwägen galt: »Der Aufbau unserer Sammlung hat uns immer zu echten Entbehrungen gezwungen, doch das Sammeln erfüllte uns immer mit Freude. Natürlich erkannten und beachteten wir unsere finanziellen Grenzen; in einigen Fällen wünschten wir, ein bestimmtes Werk zu erwerben, wollten aber nie auf Raten kaufen – auch wenn manch einer diese unsere Entscheidung belächeln wird.« Die Sorgfalt, mit der es ausgewählt wurde, wird begreifbar. Jedes einzelne Objekt bezieht seinen Wert nicht etwa aus dem Renommee des Künstlers, sondern vielmehr aus dem ihm innewohnenden Wesen und seiner Qualität.

Im Jahr 2005 verstarb Charlott Kerstan. Tistou Kerstan erwägt seit diesem Zeitpunkt den Verkauf der Sammlung. Doch stellt für ihn deren Bewahrung als gewachsene Einheit eine unumstößliche Bedingung dar: »Das Gesammelte von fünfzig Jahren in alle Winde zu zerstreuen, das ist ganz gegen meine Natur.« Der Verkaufserlös soll der Stiftung Vision 2000 zu­gutekommen, die das Sammlerpaar 1997 zur Bekämpfung von Sehbehinderungen und Erblindung ins Leben rief.

Text: Isabel Meixner