Tagungsbericht |
The Digital Oblivion. Substanz und Ethik in der Konservierung digitaler Medienkunst 4. und 5. November 2010, ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe
Im Rahmen des EU-Forschungsprojekts digital art conservation fand am 4. und 5. November 2010 die Fachkonferenz „The Digital Oblivion. Substanz und Ethik in der Konservierung digitaler Medienkunst“ im ZKM | Zentrum für Kunst und Medientechnologie statt. Ziel der ersten Tagung des Projekts war, die Frage der Bedeutung der „digitalen Revolution“ für die kulturelle Identität und das „kulturelle Gedächtnis“ (Jan Assman) zu stellen. Besondere Aufmerksamkeit wurde der Problematik der Erhaltung von digitaler Medienkunst gewidmet. Die Beiträge der Referenten, die sowohl von der theoretischen als auch von der praktischen Ebene ausgingen, wurden mit der zahlreichen Teilnahme eines internationalen Publikums und einer großen Anteilnahme der Zuhörer an den Diskussionsrunden begrüßt. Am Nachmittag des 5. November präsentierten Techniker und Konservatoren vier Kunstwerke aus der ZKM-Sammlung. Sie zeigten, vor welche schwierigen Entscheidungen, die „Professionals“ des Gedächtnisses durch den schnellen digitalen Forschritt täglich gestellt werden. Die Vorträge wurden auf Deutsch, Englisch und Französisch gehalten und von Simultandolmetschern in diese drei Sprachen übersetzt.
Peter Weibel eröffnete die Fachkonferenz mit einer Brücke zur Ökologie. Die Kunst mit neuen Medien nähere sich einem „tipping point“, dem Punkt des irreversiblen Verlusts. Die gegenwärtige Fachkonferenz werde dazu beitragen, diesem Verlust entgegenzuwirken.
Bernhard Serexhe erklärte die Zielsetzungen des Projekts: die Umstände für die Konservierung digitaler Medienkunst in Sammlungen und Museen seien zu analysieren. Die „digitale Revolution“ habe Bedingungen hervorgebracht, die das Fortbestehen des kulturellen Gedächtnisses zutiefst in Frage stellen. Dies sei mit den Interessen der IT-Industrie verbunden, die auf hohem Konsum und deshalb gegen langfristig sichere Speichersysteme angelegt sei. Lösungsansätze liegen in der Frage nach der materiellen versus der ideellen Substanz des Werks.
Edmond Couchot stellte den Begriff der „chronischen Zeit“ dem Begriff der „uchronischen Zeit“ gegenüber. Letztere sei geprägt von Simulationen, Eventualitäten, Möglichkeiten und bezeichne einen Zustand der ständigen Gegenwart frei von Verzögerung, Dauer und Handlung. Durch das Internet konstruiere jeder seine eigene Geschichte, diese Geschichten seien jedoch nicht reproduzierbar. Ein mögliches Medium der Vermittlung wäre ein Archiv, das ähnlich wie ein organisches, lebendiges Gedächtnis funktioniert.
Siegfried Zielinski legte dar, dass sich im Jahr 2010 einerseits ein flaches Zeitbewusstsein ausbreite, dass andererseits Archäologie ein wichtiges Thema für das öffentliche Bewusstsein sei – „Archäologie ist sexy“. Durch digitale Technologien verbreite sich eine „instant archaeology“, durch die die Gegenwart abgeschafft werde. Er sprach über die Rolle von Archiven. Zentrale Archive sollen kulturübergreifende, lebendige Forschungsstätten sein. Dezentrale Archive „ohne Führungsanspruch“ haben spezifische und ganz unterschiedliche Anwendungen. Diese bezeichne er als „Anarchive.“
Hans Belting vertrat die Auffassung, dass das Konzept eines digitalen Archivs einen Widerspruch darstelle. Digitale Medien seien einem schnellen Wandel unterworfen und somit unbeständig. Es würde sich eine Schere öffnen zwischen den unerhörten Datenmengen und ihren Erhaltungsmöglichkeiten. Er legte auch dar, dass nicht-westliche Kulturen einen anderen Begriff der Zeitgenossenschaft haben, der weniger im Gegensatz zur Tradition stünde als der westliche Begriff. Zuletzt analysierte Belting die Medienkunst als „Zwitter von Technologie und Konzept“. Alte Technologien verstaubten im Museum, Kunstwerke veralten nicht im gleichen Maße weil sie nie eine Nutzung hatten. Man müsse sich in der Konservierung dieser Kunstwerke demzufolge auf Inhalte konzentrieren. Angesichts der Tatsache, dass frühe Medienkunst im Widerstand zu einer etablierten Kunst flüchtig sein wollte fragte Belting, weshalb etwas wiederholt werden sollte, das nie für die Wiederholung bestimmt war. „Schmetterlinge die gefangen und aufgespießt sind fliegen nicht mehr.“
Ingrid Scheurmann erklärte, dass Langlebigkeit keine Bedingung für den Denkmalschutz sei. Allerdings seien die Kriterien für den Denkmalschutz Einzigartigkeit, Substanz, Identität. In der Denkmalpflege sei die Ansicht stark vertreten, dass das Original durch die Rekonstruktion an Bedeutung verliere. Auch tendiere dieses Fach zum Schutz des Schönen und Guten. Es stelle sich die Frage, wer den Rest schütze. Der Denkmalschutz tendiere zur Kategorisierung der Schutzobjekte und benutze für die Auswahl der Objekte unter anderem folgende Kriterien: nationale Bedeutung, Alterswert, Symbolwert. In der Postmoderne seien Ästhetik und Heimat Schlagworte der Denkmalpflege gewesen. Später sei wichtig geworden, dass mit den Denkmalobjekten die Verwerfungen der Geschichte dokumentiert werden konnten. Die Gesellschaft müsse die Kriterien der Denkmalpflege immer neu aushandeln.
Klaus Weschenfelder vertrat die These, dass in Museen Authentisches durch Symbolisches ersetzt werde und argumentierte, dass der materielle Erhalt eines Objekts die Überlieferung von dessen Bedeutung nicht garantieren könne. Man spreche heute von der Bulimie des Sammelns, wodurch der Blick für das Besondere verloren gehe. Museen tendieren dazu, Objekte in ihre Sammlungen aufzunehmen, deren Erhalt unproblematisch sei, weshalb Medienkunst von nicht spezialisierten Museen weniger gesammelt werde als andere Kunst. Anhand einer Analyse der Vertretung bestimmter Kunstbegriffe in der Zeitschrift Kunstforum International habe er festgestellt, dass der Begriff Netzkunst erheblich seltener als die Begriffe Installation und Video erwähnt werde. Die Malerei dominiere noch immer den Diskurs. Die materielle Überlieferung gebe nur ein lückenhaftes Bild für kulturelle Wirklichkeit wider und darin sei das digitale Vergessen begründet. Der Umgang mit dem Ephemeren in der Kunst erfordere eine Überprüfung der Rolle des Museums als Ort des Sammelns von Werken. Der Wunsch nach systematischem und repräsentativem Sammeln berge den Wunsch nach Homogenisierung.
Hans-Dieter Huber vertrat die These, die Materialität erzeuge die Präsenz des Kunstwerks. Die Präsenz des Kunstwerkes sei wiederum Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung. In der Frage nach dem Original und dem Dokument müssen wir unterscheiden, ob das Werk einen analogen oder digitalen Ursprung habe. Er nannte die verschiedenen bekannten Strategien für die Konservierung von digitalen Kunstwerken: Lagerung, Emulation, Migration, Reinterpretation. Vielleicht sollte die physische Erhaltung des Werks ersetzt werden durch dessen Beschreibung ebenso wie Musik durch Notierung erhalten wird. Dies müsse mit dem Künstler gemeinsam getan werden. Weil die Authentizität der Erfahrung des Kunstwerks von den Bedingungen der Entstehungszeit abhängt, und diese unwiederholbar seien, gebe es keine Authentizität.
Alain Depocas führte aus, dass Werke in einer technologischen Umgebung erstens Auswirkungen, zweitens eine Verhaltensweise haben und drittens sich mit der Zeit verwandeln. Es gebe dynamische, generative Werke. Es seien neue Formen der Dokumentation notwendig, die der hohen Veränderlichkeit der technischen Objekte gerecht werden können und u.a. die Interaktionsmodi der Werke erfassen können. Die Funktion des Kunstwerks soll ohne allzu viele technische Details, die für die Rekonstruktion nicht nötig seien, beschrieben werden. Er listete verschiedene Forschungsprojekte auf, die sich mit der Dokumentation von Medienkunstwerken befassen: „Capturing Unstable Media“, „Media art notation systems“, „Inside Installations“, „Matters in Media Art“. Er stellte die Frage in den Raum, ob Besucherreaktionen auch dokumentiert werden sollen.
Antoni Muntadas begann seinen Vortrag mit der Aussage, wir sollten mehr Kunstwerke zerstören. Nicht jedes Kunstwerk müsse erhalten werden. Gewisse Kunstwerke, wie Performances, müssten nicht reproduziert werden, es reiche, wenn diese dokumentiert würden. Er stellte u.a. sein Werk Between the frames (1983-1993) vor. Zu seinem Kunstwerk gehöre ein Konzept und dieses übergebe er unterschiedlichen Kuratoren, die das Konzept reinterpretieren. Nur die Software werde übergeben. Die weiteren Elemente der Installation werden vor Ort hergestellt oder aufgebaut. Die Arbeit sehe in jeder Ausstellung völlig anders aus. Dies habe der Künstler so beabsichtigt. Am Schluss bleibe das Konzept des Künstlers.
Herbert W. Franke las eine Kurzgeschichte vor, die er speziell für das Symposium geschrieben hatte, zum Thema „Geschichtsschreibung der Zukunft“. Darin geht das digitale Archiv der Menschheit durch einen technischen Fehler verloren. Die Vergangenheit muss aus dem Gedächtnis rekonstruiert werden. Dabei wird die Vergangenheit nachträglich nach Gutdünken der politischen Machthaber angepasst. Glücklicherweise gibt es da ein engagiertes Paar, das die Verfälschung der Geschichtsschreibung entdeckt. Die Helden wehren sich...
Rosina Gomez Baeza Tinturé stellte zunächst die Tätigkeiten des Laboral Centro de Arte y Creación Industrial in Gijón, Spanien, vor, einem Ort des Austausches zwischen Künstlern, der Ausstellungen und der Forschung. Sie sprach davon, dass das Thema Konservierung von Medienkunst fast ausschließlich in Form von Fallstudien und nicht durch Konservierungsstrategien angegangen werde. Eine Konservierungsstrategie wäre aber für die meisten Sammlungen dringend notwendig. Dabei müsse geklärt werden, was genau erhalten werden soll. Diese Frage stelle sich insbesondere bei Performances und auch bei Veränderungen des Werks durch den Künstler.
Peter Weibel sprach vom Gedächtnis als Speicherkapazität. Die Mumie sei die erste Speichertechnik gewesen. Auch die Arche Noah sei eine Form der Speicherung gewesen: es stand nur ein begrenzter Speicherraum und eine begrenzte Speicherzeit zur Verfügung. Ein Speichermedium diene eigentlich der Unsterblichkeit. Buckminster Fuller hinterließ 45 Tonnen Material für die Archivierung. Heute würde dies alles auf einen USB-Speicherstick passen. Der Mensch sterbe zweimal: einmal körperlich, einmal symbolisch. Die geprägte Münze als Beispiel für eine analoge Speichertechnik sei nicht nur ein Mittel der Erinnerung gewesen, damit sei auch ein Machtanspruch vermittelt und ausgebreitet worden. Die Speicherkapazität sei explodiert im Verhältnis zur Datenmenge. Es finde ein Angriff der Gegenwart auf die Zeit statt, die Zeit werde in der Realtime-Kultur komprimiert. Das Vergessen sei schon eingetreten.
Daria Parkhomenko eröffnete ihren Vortrag mit einer historischen Übersicht über die Entwicklung der Medienkunst in Russland seit den 1980er Jahren. Mehrere „Neustarts“ hätten nach der Perestroika stattgefunden. Nach der Perestroika entstand Kunst, die schon einen Medienhintergrund besaß und im kulturellen Gedächtnis verankert war. Was fehlte, war der dezidiert technologische Ansatz, der jedoch spätestens mit den 90er Jahren begann und im TV beziehungsweise der Clubszene ihre exponierten Medien fand. Ein weiterer Neustart war der Aufbau von Institutionen, die sich ganz der zeitgenössischen Kunst widmeten, wie etwa das Nationale Zentrum für zeitgenössische Kunst (NCCA). Parkhomenko stellte Laboratoria Art&Science Space in Moskau vor, eine 2008 von ihr ins Leben gerufene Institution, die sich vor allem mit dem Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft beschäftigt. Der Prozess des Austausches sei manchmal wichtiger als das Ergebnis. In der Dokumentation dieser Prozesse sähe sie eine bedeutsame Frage der Erhaltungsproblematik.
Johannes Gfeller moderierte die Abschlussdiskussion mit Hans Belting, Christoph Blase, Renate Buschmann, Rosina Gomez-Baeza Tinturé und Siegfried Zielinski. Er bemerkte, dass im Laufe der Fachkonferenz viele Kategorien der Zeit aufgeführt worden seien. Peter Weibel habe vom Angriff des Speicherraums auf die Speicherzeit gesprochen, Edmond Couchot von uchronischer Zeit. Er legte seine Überlegungen zum Raum in der Medienkunst dar. Seit den 1960er Jahren hätten wir elektrischen Raum gehabt, seit den 1970er Jahren elektronischen Raum, ab Mitte der 80er Jahre digitalen Raum und seit Mitte der 90er Jahre Cyberspace. Dieser Raum entziehe sich den klassischen Zeitkategorien. Ist der Cyberspace in der Nicht-Zeit oder in einer unendlich ausgedehnten Jetztzeit anzusiedeln? Hans Belting stellte in Frage, dass traditionelle Verfahren der Dokumentation für die Medienkunst gelten, da diese nicht in der empirischen Zeit anzusiedeln sei. Christoph Blase argumentierte, dass viel nützliches Wissen von der „Recomputing“ und „Gaming“-Szenen erlangt werden kann. Renate Buschmann wand ein, dass es mit dem Voranschreiten der Zeit immer mehr Kraft koste, das notwendige Wissen zu erlangen. Zur Frage, ob in der Industrie Rat zu finden sei, erwiderte Johannes Gfeller, dass die Industrie an Geschichte nicht interessiert sei. Der zuverlässigste Akteur für die Erhaltung von Kunst sei das Museum. |