zkm2010
 



Konversationskunst
Kurd Alsleben, Antje Eske
und Freunde

16. Oktober 2010 – 9. Januar 2011
ZKM | Medienmuseum
Projektraum

Aktuelle Konversationsspiele
Antje Eske und Kurd Alsleben
Die Spiele können vis-á-vis, per Computer oder im Netz gespielt werden.

Haikai Renga
Limericks
Portraitmalen
Sprichwörter auf den Kopf gestellt
Stille Post
Les galères du bel esprit
Cadavre exquis
Frage und Antwort
Jede/r schreibt einen Satz auf.
Auratisches Lesen
Drudeln
Bildergeschichten
Bilderchat


Haikai Renga
Haikai Renga sind japanische Antwortgedichte, die aus zwei Teilen bestehen. Der erste Teil ist ein Dreizeiler, ein Haiku (wichtig ist die Silbenzahl): erste Zeile fünf Silben, zweite Zeile sieben Silben, dritte Zeile fünf Silben: Unendlich weit scheint
die Lichtquelle zu leuchten.
Leuchtturm der Ideen

Der zweite Teil des Haikai Renga besteht aus zwei Zeilen mit jeweils sieben Silben: Lass dich davon anregen
bis alle Täler lachen

Spielregel 1: Eine Spielvariante besteht darin, ein Haiku zu schreiben, den Zettel weiterzureichen und damit zu einem Antwort-Zweizeiler anzuregen. Dann das Haiku wegknicken, den Zettel weiterreichen, auf dass die/der Nächste vom Antwort-Zweizeiler zu einem neuen Haiku angeregt wird. Dann wieder an die/den Nächste/n nur das letzte Haiku weitergeben, das erneut zu einem neuen Antwort-Zweizeiler führt und so weiter.

Spielregel 2: Eine andere Spielvariante bezieht Medienwechsel ein, sodass auf jedes Haikai Renga eine Visualisierung folgt, das heißt, dass eine Zeichnung angefertigt wird, die zu einem neuen Haiku, dann zu einem Antwortvers und wiederum zu einer neuen Visualisierung anregt und so weiter


Limericks
Limericks sind Nonsense-Gedichte mit dem Reimmuster a a b b a (die ersten beiden Zeilen reimen sich, die beiden nachfolgenden auch, und die letzte Zeile reimt sich wieder auf die ersten beiden). Aus dem England des 17. Jahrhunderts sind Verse überliefert. Das nachfolgende Beispiel ist aus dem 18. Jahrhundert:

„I sell the best brandy and sherry
To make good customers merry;
But at times their finances
Run short, as it chances,
And then I feel very sad, very.“

Typisch für Limericks ist die Illustrierung. Ähnlich wie Embleme der Barockzeit wirken sie durch die Einheit von Text und Bild. Mit dem Fünfzeiler wird außerdem eine Geschichte erzählt.

Spielregel: Eine/r schreibt einen Limerick, die/der Nächste visualisiert, die/der Nächste wird zu einem neuen Limerick angeregt und so weiter.


Portraitmalen
Das Portraitmalen wurde im Rahmen der barocken Salonkultur in mehreren Salons kultiviert. Diese Selbstdarstellung oder Portraitierung anderer mit Worten hatte sich als ideale Voraussetzung erwiesen, die Personen offiziöser Kreise (nicht mehr als 10 Personen) miteinander zu verbinden und zu vernetzen.[1] Von den Charakterisierungen ließen manche Salonièren gedruckte Kleinauflagen herstellen, die jede/r Beteiligte bekam. Dieses historische Spiel, das den anderen Menschen verbal beschreibt, lässt sich im Medienwechsel abwandeln.

Spielregel: Jede/r zeichnet oder silhouettiert einen Menschen ihrer/seiner Wahl und reicht das Blatt weiter. Das vorliegende Bild wird jetzt wieder in Worten beschrieben und nur der Text weitergereicht. Der inspiriert zu einem neuen Bild und so weiter.


Sprichwörter auf den Kopf gestellt.
Paul Éluard und Benjamin Péret loten in ihrem 1925 erschienenen Buch 152 proverbes mis au gout du jour (152 Sprichwörter auf den neuesten Stand gebracht) den Pastiche (Stilimitation) aus. Anders als die Parodie, die einem satirischen Impuls folgt, verhält sich der Pastiche seinem Original gegenüber eher neutral oder technisch. Er vollzieht keine inhaltliche, sondern eine stilistische Imitation:
„Tout ce qui brille n’est pas or. / Tout se qui grossit n’est pas mou.“
(Es ist nicht alles Gold, was glänzt. / Es ist nicht alles weich, was wächst.)
Im Gegensatz zum Wortspiel, das seine Pointe durch den Austausch kleinster semantischer Einheiten innerhalb eines Satzes erfährt, sind es im Sprachspiel, wie dem Pastiche, Formen mit denen operiert wird. Diese Art der Sprachverfremdung steht noch ganz im Zeichen des Dadaismus. Éluard sieht in ihr eine Möglichkeit, die Sprache ins Bewusstsein ihrer Benutzer zu bringen.
Spielregel: Jede/r fängt mit einem geschriebenen Sprichwort an. Die Zettel werden weitergereicht und die/der Nächste verfremdet das Sprichwort im Sprachspiel. Dies wird wieder weitergegeben und in eine Visualisierung umgesetzt. Die/der Nächste versucht dann das Sprichwort, das in der Visualisierung versteckt ist, zu erraten. Wieder Verfremdung des erratenen Sprichwortes, dann Visualisierung, und so weiter bis das Blatt voll ist.


Stille Post
Stille Post geht auf das bekannte Kinderspiel zurück, bei dem eine verbale Botschaft von Ohr zu Ohr geflüstert wird, wobei der Reiz darin besteht, dass die individuelle Ausgangslage durch undeutliche Vermittlung verknüpft mit assoziativem Wortschöpfungsvergnügen sich in eine überraschende Gruppenschöpfung verwandelt.
Spielregel für Stille Post im Medienwechsel: Jede/r beginnt mit einem Wort, Satz oder kurzem Gedicht. Die/der Nächste setzt das Vorgegebene in eine Visualisierung um. Dann den Text wegknicken, das Blatt weitergeben und wieder jeweils ein Wort, Satz oder Gedicht umsetzen und so weiter.


Les galères du bel esprit
Das Spiel bezieht sich auf die Loteries poétiques aus dem Salon von Anne-Louise du Maine, der wegen seiner strengen Aufnahmeregelungen als Les galères du bel esprit (Die Galeere des Schöngeistigen) in die Geschichte eingegangen ist. Wer in du Maines Pavillon d’Aurore aufgenommen sein wollte, musste erst bei einem der Zeremonienmeister (Abbé Claude Genest, Marguerite Jeanne Cordier Delaunay oder Nicolas de Malezieu) ein „Examen“ bestehen: „Er gab ein Thema, über das man sprechen musste, sein Urteil entschied, ob die Einladung erfolgte oder nicht.“[2]
Spielregel: Jede/r zieht aus einem Pompadour ein Los mit vier Endreimen, zum Beispiel „Wonnemond“, „unbelohnt“, „Lebertran“, „eitler Wahn“. Aus diesen Endreimen möge ein Vierzeiler entstehen, der weitergereicht wird. Die/der Nächste setzt das Gedicht in eine Visualisierung um, knickt den Text weg und gibt ihn weiter, auf dass die Visualisierung wieder zu einem Gedicht wird und so weiter.


Cadavre exquis
Als Beispiel kollektiver Auseinandersetzung des Surrealismus mit den Gesetzen des Zufalls ist das Spiel Cadavre exquis (exquisiter Leichnam) überliefert.
Spielregel 1: Die verbale Spielmöglichkeit bestand darin, dass mehrere Personen unterschiedliche Satzteile (Subjekt, Prädikat, Objekt und so weiter) unabhängig voneinander niederschrieben. Seinen Namen verdankt das Spiel dem ersten so entstandenen Satz: „Der exquisite Leichnam soll trinken den perlenden Wein.“
Spielregel 2: Beim visuellen „exquisiten Leichnam“ zeichnete jeder etwas auf einen Bogen und faltete ihn dann so, dass der Nächste nicht sehen konnte, welcher Art die Zeichnung war. So machen wir es heute noch. Jede/r fängt an einen Kopf, egal ob menschlich, tierisch oder phantastisch, zu zeichnen und knickt das Blatt nach Fertigstellung so weit nach hinten, dass nur noch die Ansätze der Zeichnung zu sehen sind. Die/der Nächste übernimmt das Blatt und zeichnet weiter, was ihrer/seiner Meinung nach unter diesen „Kopf“ gehört, knickt wieder die Zeichnung so weit nach hinten, dass nur noch die Ansätze zu sehen sind und so weiter bis das Blatt vollgezeichnet ist.


Frage und Antwort
Das Spiel wurde in Antje Eskes Seminar Spinnen am Computer an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) in Hamburg entwickelt und vis-à-vis, im LAN oder im Internet mit den SeminarteilnehmerInnen und Beteiligten außerhalb der HFBK gespielt.
Spielregel: Jede/r fängt mit einer Frage an. Zum Beispiel: „Warum bist du heute hier hergekommen?“ Das Blatt wird weitergereicht und die/der Nächste beantwortet die Frage mit einer Visualisierung. Die/der Nächste versucht aus dem weitergereichten Bild die Ausgangsfrage zu entschlüsseln, schreibt sie auf und gibt nur die letzte Text-Frageversion sichtbar weiter. Die wird wieder umgesetzt in ein Antwort-Bild und so weiter.


Jede/r schreibt einen Satz auf.
Das Spiel wurde in Antje Eskes Seminar Spinnen am Computer an der Hochschule für bildende Künste (HFBK) in Hamburg entwickelt und vis-à-vis, im LAN oder im Internet mit den SeminarteilnehmerInnen und Beteiligten außerhalb der HFBK gespielt.
Spielregel: Jede/r schreibt einen Satz auf und in die nächste Zeile ein Wort. Das wird weitergereicht und alles andere weggeknickt. Die/der Nächste vollendet den Satz und schreibt in die neue Zeile wieder nur ein erstes Wort. Wieder wegknicken bis auf das erste Wort in der neuen Zeile und weiterreichen und so weiter bis das Blatt voll ist und die Gemeinschaftsgeschichten vorgelesen werden können.


Auratisches Lesen
Die Philosophin Heidi Salaverrìa beschreibt die Erfahrung des auratischen Lesens folgendermaßen: „Worin besteht der Unterschied zum rein diskursiven Austausch? Ein wichtiger Unterschied besteht in einer anderen Geschwindigkeit [...] Im Medienwechsel wird der kapitalistische Begriffskonsum gebremst. Mit Bildern und Tönen geht das nicht so schnell, wir haben darin nicht die gleiche Routine, jedenfalls nicht, wenn wir sie zeichnen, lesen, hören und darauf antworten wollen. [...] Die fröhliche Antiroutine öffnet andere Kanäle: Die Kommunikation wird anarchisch. Dadurch kann Neues und eine zwanglose Verbindung untereinander entstehen. Was ist das für eine Verbindung? Und wie kommt es, dass sie auch zwischen Fremden gelingen kann? Ich meine, das ist auch eine Art von Common Sense, die sich von dem herrschenden unterscheidet, vielleicht kritischer Common Sense oder kritischer Nonsense. [...] Alle sinnlichen Ebenen des Sozialen sollten darin Platz haben. Dass es möglich ist, auf diesen unterschiedlichen Ebenen des Miteinanders Dinge zu transportieren, legt nahe, auf einen utopischen Sensus communis zu hoffen.“
Spielregel: Ein Text (zum Beispiel von Walter Benjamin) ist Anregung für das Konversationsspiel. Jede/r versucht die Momente der Einmaligkeit und Dauer des Textstückes, die sie/er ausdrücken möchte, sowie ihr Eingebettet sein. Durch die Anregung, die von den anderen kommt, wird man selber in ungeahnte eigene Ausdruckshöhen getragen. in einen sinnvollen Traditionszusammenhang durch die eigene Interpretation den anderen anzusinnen, z.B. durch zeichnerische Darstellung, Singen, Deklamieren, Agieren, etc.


Drudeln
„Ein Drudel ist ein Bilderrätsel, bei dem aus einer Zeichnung das Dargestellte herausgelesen werden muss, wobei die Darstellung oft eine ungewöhnliche oder extreme Perspektive oder einen extremen Ausschnitt verwendet.“[3] Angefangen wird damit, dass jede/r eine außergewöhnliche Perspektive aufzeichnet. Bekannt ist etwa das Beispiel Mexikaner auf dem Fahrrad, bei dem der Sombrero, von oben gezeichnet, aus zwei verschieden großen Kreisen besteht, wobei aus dem großen Kreis vorn und hinten vom Fahrrad nur das Vorder- und Hinterrad als von oben gesehene Strichdarstellung herausguckt. Der gezeichnete Drudel wird von der/dem Nächsten geraten und aufgeschrieben. Dieser Text regt die/den Nächsten zu einem neuen Drudel an und so weiter.


Bildergeschichten
Der Schweizer Rodolphe Toepffer (1799 – 1846) war der Erfinder der Bildergeschichten und mit seinen sieben gezeichneten Geschichten somit der Vater des Comics. Die erste, L’Histoire de Mr. Vieux Bois, zeichnete er 1827. Er „nimmt für jedes seiner Hefte ein Subjekt vor, irgendeinen Narren, ein Individuum, das so oder anders zum Objekt komischer Schicksale bestimmt ist; [...] [Bei Toepffers Bildererzählungen handelt es sich] in der Regel um mehrere Handlungen [...] die miteinander verquickt werden, [...] von ineinander verfitzten, verschlungenen und zusammenmontierten [Handlungssträngen] [...] Im Gegensatz zu den Bildergeschichten Wilhelm Buschs [des Nachgeborenen] [...], wo die Bilder als zwischen die Verse geschobene Illustrationen agieren.“ [4] „Dass sich die Wiederentdeckung der Toepfferschen Bilderromane zu einem Zeitpunkt vollzieht, wo der Stummfilm seine ersten Gehversuche macht, ist kein Zufall [...] Die flüchtig hingeworfenen komischen Gestalten in Toepffers Bilderromanen und ihre unerwarteten Handlungssprünge haben eine verblüffende Ähnlichkeit mit den überdrehten, ruckartigen Bewegungen der ersten Filmstars und den grotesk-komischen Handlungssträngen der frühen Stummfilme […].“[5]
Spielregel: Wir zeichnen jeweils einen Charakter im Bildrahmen. Blatt weiterreichen und die/der Nächste lässt den Dargestellten anfangen zu agieren, auch mit Text. Das Blatt umknicken und immer nur den letzten Bildrahmen sichtbar lassen. Auf diese Weise entwickelt sich nach und nach eine gemeinsam gezeichnete Bildergeschichte. In der retrospettiva, der Rückschau, liest und präsentiert jede/r Beteiligte den Beitrag, den sie/er angefangen hat.


Bilderchat
Im Sommer 2001 entwickelten Antje Eske und andere den Bilderchat – ein konversationelles Spiel im Netz. Seit neun Jahren tauscht sich eine Gruppe von Personen einmal pro Woche eine Stunde lang im Medienwechsel aus. Im Bilderchat wird „linkisch“ konversiert, das heißt, es wird jeweils an ein Bild oder einen Text eines Mitspielers „angelinkt“. Quasi zwangsläufig werden beim Bilderchat Wort- oder Bild-Gedankenfetzen, die vordergründig nichts miteinander zu tun haben, in Verbindung gebracht. In dieser Verbindung entsteht Sinn. Regelmäßiges Chatten öffnet die „Steigrohre des Unbewussten“ (Surrealismus) und weckt das poetische Potential.
Georg Nees, früher Computerkünstler, der zum festen Kern des Bilderchats gehört, beschreibt ihn in einem Brief an Antje Eske so:
„Funktionell ist der Bilderchat ein Reiz-Reaktionsschema: Das Bild, oder ein nachfolgender Text, oder ein Teil oder eine Kombination davon, wirkt als Reiz auf die Chatter. Die Wirkung des Reizes sind Assoziationen, die vom Chatter in eine neue Nachricht umgesetzt werden. Eine dieser Nachrichten erscheint als erste auf dem Bildschirm. Sie setzt die Reiz-Reaktionskette fort. In der Regel bleibt der Urheber einer Nachricht anonym, es sei denn, er outet sich, oder wird durch einen Mitchatter identifiziert, vielleicht anhand eines Charakteristikums.“
Unter: http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/Netzkunstaffairen/51 sind die Bilderchats ab Ende 2006 zu finden.


Am Bilderchat teilnehmen:
Wer mitchatten möchte, sende eine E-Mail an: kuecocokue [ a t ] gmail [ p u n k t] com, um Benutzernamen und Passwort zu erhalten.

Adresse:
http://swiki.hfbk-hamburg.de:8888/Netzkunstaffairen/51

Termine:
21.Oktober 2010, 17 –18 Uhr
4. November 2010, 17 –18 Uhr
18. November 2010, 17 –18 Uhr
02. Dezember 2010, 17 –18 Uhr
16. Dezember 2010, 17–18 Uhr


[1] Der Begriff  „offiziös“, mit der Bedeutung zwischen „privat“ und „öffentlich“, wurde von Claudia Schmölders 1993 geprägt, während ihrer Seminare als Gastprofessorin an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, wo sie auf Einladung von Kurd Alsleben, Matthias Lehnhardt und Antje Eske unterrichtete.
[2] Alexander von Gleichen-Russwurm, Das galante Europa, Stuttgart, Hoffmann, 1910,
[3] Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Drudel.
[4] Karl Riha (Hg.), Rodolphe Töpffer, Komische Bilderromane, Frankfurt am Main, Insel Verlag, 1995.
[5] Helmut Keil (Hg.), Rodolphe Toepffer, Histoire de Monsieur Crépin: récit en estampes, Stuttgart, Reclam, 1994.