zkm2010
 



Konversationskunst
Kurd Alsleben, Antje Eske
und Freunde

16. Oktober 2010 – 9. Januar 2011
ZKM | Medienmuseum
Projektraum

Madeleine de Scudéry und die Carte de Tendre

Antje Eske
[2010]

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Unbekannt, Madeleine de Scudéry

Madeleine de Scudéry wurde 1607 in Le Havre, als Tochter mittelloser Adeliger, geboren. Ihre Vorfahren sollen italienischer Abstammung gewesen sein (Sizilien = Scudieri). Nachdem sie in frühen Jahren ihre Eltern verloren hatte (sie und ihr 6 Jahre älterer Bruder wurden von einem Onkel in Rouen aufgenommen), schloss sich Madeleine später ihrem Bruder an, dem Dramatiker Georges de Scudéry, „der auch ‚Le Capitant’ genannt wurde, weil er [...] [in seinen Büchern] soviel Blut der Bösen vergoß.“[1] 1639 zog sie zu ihm nach Paris, wo er sie in den Salon Rambouillet einführte. Sie veröffentlichte, zunächst unter seinem Namen, eine Serie erfolgreicher, in ganz Europa gelesener galanter (Schlüssel-)Romane und lebte bis 1655, bis sie 48 Jahre alt war, mit ihm zusammen, was für sie auch eine persönliche Lösung war, ihr Ideal der „weltlichen Ehelosigkeit“ zu verwirklichen (Georges wurde nach dem Ende der Fronde in die Normandie verbannt).

„Von einigen Protagonistinnen ihrer Binnennovellen, vor allem von Sapho (Artamène ou le Grand Cyrus, Bd.10), lässt [Madeleine de Scudéry] die Gründe für einen Eheverzicht differenziert darlegen. Es ist die [...] Verbindung von Freundschaft, Kultur und Gespräch, in der weibliche Subjektwerdung bis ins Alter gesichert ist und die, als den Frauen bislang verschlossene, unentfremdete und selbstbestimmte Existenz, den verständlichen Reiz des Neulands hatte. Die gültige Norm weiblicher Schicklichkeit verlangte freilich den Verzicht auf die erotische Erfüllung. Dem liebenden Mann ist es aufgegeben, in asketischer Selbstbindung, sich in Heiratsverweigerung und ein ‚unbegehrliches Lieben’ zu fügen und mit dem geheimen Triumph des ‚verborgenen Liebhabers’ sich zu bescheiden, um dergestalt die auf der Frau lastenden Gebote und Beschränkungen mitzutragen. [Scudéry ermutigte andere Frauen, sich von Schein-Werten wie Jugend oder Schönheit zu befreien.] ‚Man würde mehr die Einbildungskraft der Dichter als Deine Schönheit bewundern ...’ Mit solchen Sätzen ermutigte Sappho [Scudérys Salonname] ihre  [...] [Schülerinnen] dazu, sich von der Unsicherheit und ‚falschen Scham’ ihres Geschlechts zu befreien und selbst zu schreiben.“ [2]
Gédéon Tallemant des Réaux klatscht über Scudéry und ihren Bruder in seinen “Salongeschichten”: „Dieser Narr hegte die lächerlichste Eifersucht der Welt für seine Schwester, manchmal schloss er sie ein und wollte nicht leiden, dass man sie besuchte. Sie war von wunderlicher Geduld, und es fällt mir schwer zu begreifen, wie sie hat schreiben können, was sie schrieb, denn obgleich an den Abenteuern nicht viel dran ist, gibt es doch eine hübsche Moral in ihren Romanen, und die Leidenschaften sind darin gut getroffen; ich kenne sogar, von einigen Künsteleien abgesehen, keine besseren Beschreibungen.
[...] [Sie] besitzt mehr Geist als er und ist weitaus vernünftiger. Sie ist aber nicht weniger eitel. Sie sagt immer: ‚Seit dem Untergang unseres Hauses.’ Man könnte glauben, sie spreche von der Zerstörung des Griechenreichs. Schönheit besitzt sie keine. Sie ist eine große magere Person mit dunklem Haar und einem sehr langen Gesicht. In ihren Gesprächen ist sie weitschweifig und ihre Stimme hat einen schulmeisterlichen Ton, der in keiner Weise angenehm ist.“[3]

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Unbekannt, Madeleine de Scudéry
in jüngeren Jahren

Von 1649–53 schrieb sie Artamène ou Le grand Cyrus, 10 Bände eines mit antiken Namen verschlüsselten Porträts der Gesellschaft des Hôtel de Rambouillet. Der Roman hatte Leitfunktion für galante Geselligkeiten. „Zeitgleich zirkulierten Schlüssel, über die man die Vorbilder der Portraits und der Protagonisten in den zahlreichen Binnenerzählungen zu identifizieren hoffte. Mlle de Scudéry hat dies durch Detailveränderungen, chronologische Umsetzungen oder Faktenkontaminationen erschwert, aus dem Gebot der Vorsicht, aber auch, um den Reiz des dechiffrierenden Lesens zu erhöhen. Mit wachsender Uneindeutigkeit nahm das Vergnügen an dem Verwirrspiel zu. Der Roman wurde zum Rätsel, zum ‚jeu d’esprit’, die Lektüre zu dessen Lösung, der Leser dem Autor ebenbürtig.“[4] Zwischen 1654–60 erschien ihr 10-bändiger Roman Clélie. Sie muss mit diesen Romanen den Zeitgeist getroffen haben, denn Le grand Cyrus beispielsweise erreichte eine Auflagenhöhe wie die Bibel. Es gab für die Bücher Ausleihstellen, damit der Inhalt jedem zugänglich werden konnte. Mit diesem Erfolg und ihren emanzipatorischen Bestrebungen ‘verdiente’ sie sich, wie aus den Zitaten deutlich wird, den Neid nicht nur der Zeitgenossen. Auch spätere Autoren blicken noch immer voller Häme auf sie. Begründet liegt das sicher mit in dem Scudéry’schen Ansatz der ‘weltlichen Ehelosigkeit’.

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J.G. Wille nach Elisabeth Sophie Chéron, 
Mademoiselle de Scudéry, Stich[5]


La Carte de Tendre
Schon 1649 übernahm Madeleine de Scudéry in den « samedis », ihrem im Pariser Stadtteil Marais unterhaltenen Salon, das Préziösenideal und baute es systematisch aus. Alexander von Gleichen-Russwurm schreibt über die bei ihr einsetzende Verschiebung des Salonideals der Rambouillet: „Ihre eigentliche Erbschaft wollte Fräulein von Scudéry antreten, aber die Samstage Sapphos, wie man diesen Empfang nannte, waren zu literarisch, um die große Welt anzuziehen. Weniger aristokratisch als die chambre bleue zeigte sich dieser neue Salon, dessen Mitglieder nicht von den grandes dames des ancien régime feine Manieren und süße Komplimente lernten, sondern mit gelehrter Pedanterie alle zarten Schwingungen der Liebe mit Definitionen und Allegorien feststeckten, wie man Schmetterlinge in einer Sammlung verwahrt. Mademoiselle Bocquet, die aus kleiner Bürgerfamilie stammte, spielte die Laute, Mademoiselle Dupré hielt Vorträge über Philosophie, die gelehrten Frauen schwärmten von allen Wissenschaften und ihren Propheten.
Man teilte das Land der Zärtlichkeiten – le pays de Tendre – in Provinzen und gab jedem Gefühl, ja jedem Gefühlchen seinen genau bestimmten geografischen Namen und Platz.“[6] Auch Tallemant des Réaux krittelt: „Jene Karte des Landes der Zärtlichkeit, die auf den Rat des Herrn Chapelain in die Clélie aufgenommen wurde, stammte von der Hand des Fräuleins von Scudéry, nach dem zu urteilen, was sie zu Pélisson sagte, dass er nämlich noch nicht so weit sei, zu ihren ‚zärtliche Freunden’ zu zählen. [...] Man kann sagen, dass Fräulein von Scudéry ebenso sehr die elende Art, sich auszudrücken, eingeführt hat wie lange Zeit niemand zuvor“[7]
Madeleine de Scudéry schrieb in dem umfangreichen Romanwerk Clélie eine über das damalige Verständnis hinausgehende, große Bandbreite von zärtlichen Empfindungen zwischen Frauen und Männern fest, die dann, nach Diskussion und Erprobung, real wurden. Dieses preziöse Bestreben hat seine Auswirkungen bis in unsere Zeit, nämlich das Wahrnehmbarmachen von differenzierten zwischenmenschlichen Gefühlen. Die galt es damals, nach den jahrzehntelangen Religionskriegen neu oder überhaupt erst zu entdecken. Gewöhnliche Worte schienen dafür zu grob oder nicht ausdrucksstark genug.

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François Chauveau,  La carte du Pays de Tendre [Karte des Landes der Zärtlichkeit], um 1754, kolorierter Kupferstich. Deutsche Übersetzung: Antje Eske


Die Bandbreite der neuen Gefühle sollte, über Worte hinaus, wahrnehmbar und erlebbar gemacht werden und das geschah durch die Benennung und Festschreibung in der Carte de Tendre.
Zur Entstehung der Carte schreibt Franziska Hupe: „Man geht heute davon aus, dass Mademoiselle de Scudéry die Idee einer Karte mit Dörfern und Flüssen von einem lateinischen Werk  Mundus alter et idem adoptierte, welches im 17. Jahrhundert von einem Engländer geschrieben wurde[8] [...]. Andere Historiker behaupten, dass man 1650 in ‘Poesies’ von Pierre Le Moyne mit der ‘Isle de Purété’ eine erste Idee zur Karte findet oder weisen auf ähnliche Karten hin, die vor der Carte du Tendre erschienen sind [...].
Die Carte de Tendre ist eine Karte eines imaginären Landes, welches sich ‚Tendre’ [Zärtlichkeit] nennt. Dieses Land ähnelt in seiner äußeren Form ein wenig der Form Frankreichs [...], was sicherlich einer besseren Identifikation mit der Karte dienen sollte. Auf der Karte findet man verschiedene Dörfer und Wege, die die verschiedenen Etappen einer Liebe symbolisieren sollen, von denen man im 17. Jahrhundert ausging. Sie soll veranschaulichen auf welchen Wegen ein Liebender das Herz seiner auserwählten Frau erobern soll.
‘Tendre’ ist so der Name des Landes, aber auch seiner drei Hauptstädte. So kennt die Karte drei verschiedene Arten von ‘Tendresse’: ‘la tendresse d’inclination’ [Zuneigung], ‘la tendresse d’estime’ [Wertschätzung] und ‘la tendresse de reconnaissance’ [Dankbarkeit]. Sie werden von den drei Hauptstädten auf der Karte repräsentiert: ‘Tendre-sur-Inclination’ [Zärtlichkeit durch Zuneigung], ‘Tendre-sur-Estime’ [Zärtlichkeit durch Wertschätzung] und ‘Tendre-sur Reconnaissance’ [Zärtlichkeit durch Dankbarkeit]. Diese drei verschiedenen Ausprägungen der Zärtlichkeit erwarten den Liebenden, wenn er den vorgeschriebenen Stufen folgt und die Städte erreicht [...]. Die verschiedenen Distanzen auf der Karte werden in ‘Lieus d’Amitié’ [Meilen der Freundschaft] gemessen.“[9]


Beispielhaft für das Bestreben, die Skala der Gefühle zu erweitern, beschrieb Madeleine de Scudéry ihre eigenen Gefühle für den Dichter Péllison und verarbeitete sie literarisch. „’Liebesfreundschaft’ oder ‚zärtliche Freundschaft’ verbindet ein solches Paar, die ‚amitié tendre’ eben. [...] Die Carte de Tendre weist dem Liebenden den Weg zu jener Tendresse [...] Wo nicht der breite Strom der Zuneigung zu dem Göttergeschenk der natürlichen Tendresse führt, krönen Wertschätzung (‚estime’) oder Dank einen bewussten und willentlichen Aufstieg des Mannes über die topographischen Haltepunkte der Bewährung, die zugleich eine zeitliche ist. Die ‚amitié tendre’ schließt, neben den orientierenden Regulativen für die Liebenden, ausdrücklich alle Momente einer ritterlich-aristokratischen und cartesianisch-rationalistischen Ethik ein. [...] Diese Trias der Vollendung - ‘estime’/’amitié tendre’/’amour parfaite’ – ist auch Bedingung für das eheliche Glück eines Paares.“[10]
Das Kapitel “La carte de Tendre”, samt eingefügter Landkarte mit topographischen Bezeichnungen, wurde zur idealen Liebeslandschaft aller gebildeten Französinnen. Die gefühlsbeschreibenden Begriffe sind uns heute noch geläufig. Als Zuspitzung dieser Sprachbewegung wurden aber auch Metaphern hervorgebracht, die nur Insider verstehen konnten: Die gewöhnliche Nase wurde zur “Schleuse des Gehirns”, die Füße waren “die armen Dulder” oder die “lieben Leidenden” und graue Haare “die Quittung der Liebe”. Augen erschienen als “Spiegel der Seele” und Brüste als “Liebeskissen”. Dieses „die Dinge nicht mehr beim Namen nennen“ hatte Auswirkungen auf die französische Sprache. Es haben sich bis heute viele zusammengesetzte Wörter erhalten. Beispiel: Pellkartoffeln = „pommes de terre en robe de chambre“.


Nicht nur mit den zwischenmenschlichen Gefühlen hat Madeleine de Scudéry sich auseinandergesetzt, sondern auch mit der Konversation, die sie regelmäßig Samstags in ihrem Salon pflegte. In Conversations sur divers sujets schreibt sie: „Die Konversation ist das gesellschaftliche Band aller Menschen, das größte Vergnügen der Leute von Anstand und das geläufigste Mittel, nicht nur die Höflichkeit in die Welt einzuführen, sondern auch die reinste Moral, die Liebe zum Ruhm und zur Tugend. Und deshalb scheint mir, sagte Cilenie, daß sich unsere Gesellschaft nicht angenehmer und nützlicher unterhalten kann, als indem sie untersucht, was denn das eigentlich ist, was man Konversation heißt. [...] Also ich, sagte Amithone, muss gestehen, dass ich ganz gern Regeln für die Konversation hätte, so wie es für viele andere Dinge ja auch Regeln gibt. Die Hauptregel, antwortete Valerie, lautet: Sage niemals etwas, das gegen den Takt verstößt. Aber, setzte Nicanor hinzu, ich würde gern genauer wissen, wie Ihr Euch die rechte Konversation vorstellt.


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Unbekannt, Madeleine des Scudéry


Ich finde, nahm sie wieder das Wort, dass die Konversation ganz allgemein öfter von alltäglichen und galanten als von großen Dingen handeln sollte. Aber trotzdem denke ich, gibt es kein Thema, das in ihr nicht zugelassen wäre. Die Konversation sollte frei und voller Abwechslung sein, der Zeit, dem Ort und den Personen gemäß, mit denen man zusammen ist. Ihr Geheimnis ist: Immer gehoben von niederen Sachen reden, ziemlich einfach von den erhabenen und sehr galant von den galanten, ohne Nachdruck, ohne Künstelei. Obgleich also die Konversation immer gleichermaßen natürlich und vernünftig sein soll, möchte ich doch darauf beharren, dass gelegentlich auch die Wissenschaften Eingang finden können, mit Maßen natürlich; dass auch für gefällige Scherze Platz ist, vorausgesetzt, sie sind angemessen, bescheiden und galant. Um also vernünftig zu reden, kann man ganz offen sagen, dass sich in der Konversation alles sagen lässt, gesetzt, man hat Geist und Takt und bedenkt gut, wo man ist, mit wem man redet und wer man selber ist. Und obwohl der Takt absolut unentbehrlich ist, um niemals etwas deplaziertes zu sagen, muss die Konversation dennoch so frei aussehen, als ob sie auch nicht den geringsten Gedanken zurückweise, als ob man alles sage, was einem die Phantasie eingibt, ohne irgendeinen Vorsatz, man wolle lieber von der einen Sache reden als von einer anderen. [...]; kurz und gut, dass man seinen Geist nach den Dingen richte, über die man spricht, und nach den Leuten, die man damit unterhalten will. In diesem Verstande also, möchte ich, dass man niemals wisse, was man sagen wird, und trotzdem immer genau weiß, was man sagt. [...] Aber außer alldem, was ich bisher gesagt habe, möchte ich noch, dass im ganzen eine fröhliche Stimmung herrsche, nicht die Torheit der ewigen Lacher, die so viel Lärm um nichts machen, sondern eine Fröhlichkeit, die jedem aus der Gesellschaft ans Herz gehen soll, eine Disposition, sich mit allem zu unterhalten und sich bei nichts zu langweilen. Und ich will, daß man von großen wie von kleinen Dingen rede, vorausgesetzt, die Rede ist gut, und daß man ohne jeglichen Zwang nur von dem redet, davon eben die Rede sein soll.“[11]
Madeleine de Scudéry war die Hauptzielscheibe von Kritik und Häme.
Ihr 10-bändiges Romanwerk Clélie soll Anlass für Molière gewesen sein, sein Spottstück Les précieuses ridicules[12] [Die Lächerlichen Preziösen] zu schreiben. Dargestellt auf dem zeitgenössischem Stich ist eine Szene aus Molières Précieuses: Zwei als Adelige verkleidete Diener machen zwei jungen Damen, die gerade vom Land nach Paris gekommen sind, auf gezierte Weise den Hof. Die beiden Damen hatten sich vorher über zwei ehrenwerte Freier lustig gemacht, die ihrer Meinung nach nicht „précieux“ genug waren, und diese abgeblitzten Freier rächen sich jetzt durch ihre, sie stellvertretenden Diener. Bei einem improvisierten Tanzvergnügen kommt der ganze Schwindel ans Licht und die Damen, die den Schaden haben, brauchen  für den Spott nicht zu sorgen.
Bei der Uraufführung des Stückes in Paris soll ein alter Herr begeistert aus dem Parkett gerufen haben: “Mut, Molière! Endlich einmal eine echte Komödie!” Am nächsten Tag fiel dann, angeblich wegen Zensur, die Vorstellung aus. Molière soll das  Manuskript zum König in die Pyrenäen geschickt und von ihm die Freigabe erreicht haben. Das dürfte dem König nicht besonders schwer gefallen sein, macht doch das Stück eine Institution lächerlich, die dem Hof seine kulturelle Geltunggenommen hatte. Als am 2. Dezember weitergespielt werden ‘durfte’, waren nur die Eintrittspreise auf das Doppelte erhöht. Die Geschädigten waren die précieusen Salons.

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Unbekannt, Les précieuses ridicules,
Kupferstich.



Nach dem Tode des Kardinals Mazarin hatte der junge Ludwig XIV. das Regiment absolut übernommen. Inzwischen volljährig geworden, versuchte er systematisch den Hof wieder zum Zentrum der Pariser Geselligkeit auszubauen, denn dieser „Hof des Grand Siècle blickte irritiert und misstrauisch auf die sich ihm entziehende Kulturgeselligkeit in den précieusen Salons.“[13]
„Gegenüber dem Elan dieses von Jugendlichkeit strotzenden Hofes erschien das Précieusentum verstaubt. [...] [Mit jungen Adeligen seiner] eleganten Clique“[14], zog Ludwig durch Paris und mischte die Stadt auf. Die neuen Schlagworte hießen “bon sens” und “naturel”. Die metaphernreiche Sprache und das, gegenüber dieser neuen Bewegung, zierlich und gekünstelt wirkende Verhalten hatten sich überlebt. Die Salons hatten sich verändert. In ihnen wurde das précieuse Lebensideal durch den „esprit“ abgelöst. Eine der Salonièren dieser ‘neuen Zeit’ war Ninon de Lenclos, bei der Molière sein Stück, Les précieuses ridicules Probe las.


Seit gut 300 Jahren werden die Preziösen so einseitig verurteilt, dass ihre Verdienste dahinter verschwinden:
1. Ihnen wurde vorgeworfen, dass sie Jagd auf schlüpfrige oder obszöne Worte machten, zierliche Umgangsformen entwickelten oder sämtliche Ausdrücke, die ‘gemeine physiologische Realitäten’ evozierten (z.B. crotter – beschmutzen, lavement – Einlauf) verurteilten.
2. Am Wendpunkt des 17. Jahrhunderts soll ihr Fehler gewesen sein, dem ‘alten Stil’ den Krieg zu erklären. Sie selber hielten sich dies zugute, indem sie pedantische, veraltete und technische Wörter verwarfen. Sie waren auf der Suche nach einer glücklichen und echten Spontaneität.
3. Als eine Erscheinungsform der feministischen Bewegung nahmen sie auch die gesellschaftliche und sexuelle Versklavung der Frau ins Visier, was ihnen sicher nicht die Zustimmung der Zeitgenossen einbrachte. “Man heiratet um zu hassen. Deshalb darf ein richtiger Liebhaber nie von Heirat sprechen.” (Scudéry) Was die Mutterschaft betrifft, diese “Wassersucht der Liebe”, so machten die Précieusen zu deren Verhütung den Vorschlag, die Ehe von Amts wegen bei der Geburt des ersten Kindes aufzulösen, dieses dem Vater zu überlassen und der Mutter dafür eine Prämie in Bargeld zu zahlen.
4. Zusätzlich entstanden ihnen mächtige Feinde unter den Fachgelehrten der Universitäten, den “pédants”, denn die Précieusen forderten, stellvertretend für alle Frauen, die Weitergabe und Verbreitung von Wissen, weil Emanzipation nicht ohne Bildung möglich ist, was sie beides immer im Zusammenhang gesehen haben. Die Vorstellungen und Forderungen der Précieusen, “in einem einzigen Buch alle Geheimnisse der Kunst und Natur” verständlich zu machen, kam zu früh. Es war ein enzyklopädisches Ansinnen, das seiner Zeit vorausgedacht war und erst ein Jahrhundert später konkretisiert werden sollte, nahm aber gleichzeitig den pedants ihre Vorrangstellung. Deren gehässige Kampagnen zeigen bis heute Wirkung. Selbst mit dem großen zeitlichen Abstand können wir uns die Précieusen ohne diesen Beigeschmack von Lächerlichkeit nicht vorstellen.
5. Der Überwindung von Inegalität zwischen Frauen und Männern, die im Zentrum des Précieusentums stand, wurde durch die männlich-bürgerliche Aufklärung ein Ende gemacht „im Namen einer mythisch beschworenen Weiblichkeit“[15], die das Bildungsgefälle zwischen Frauen und Männern noch auf lange Zeit festigen sollte.
Allen Verunglimpfungen zum Trotz ist Madeleine de Scudéry, im Rückblick auf die französischen Salonièren, doch diejenige, die das weitreichendste Potential für emanzipatorische gesellschaftliche Veränderung in Gang setzte.
E.T.A. Hoffmann, der ihr später ein Denkmal in seinem Buch Das Fräulein von Scuderi gesetzt hat, geht jedoch auf ihr Wirken als Salonière nicht ein.

[Erstveröffentlichung in: Antje Eske, Die Verbindung von Social Web und Salonkultur. Salonièren. edition kuecocokue und Bod Norderstedt, 2010] 

 


[1] Jean-François Chiappe (Hg.), Die berühmten Frauen der Welt von A-Z, Bertelsmann, Gütersloh, 1976
[2] Renate Baader, „Heroinen der Literatur. Die französische Salonkultur im 17. Jahrhundert“, in: Bettina Baumgärtel und Silvia Neysters (Hg.), Galerie der starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Klinkhardt & Biermann, München, 1995.
[3] Gédéon Tallemant des Réaux, Salongeschichten, Manesse-Verlag, Zürich, 1996.
[4] Renate Baader, „Heroinen der Literatur. Die französische Salonkultur im 17. Jahrhundert“, in: Bettina Baumgärtel und Silvia Neysters (Hg.), Galerie der starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Klinkhardt & Biermann, München, 1995.
[5] Margarete Zimmermann und Roswitha Böhm, Französische Frauen der Frühen Neuzeit. Dichterinnen, Malerinnen, Mäzeninnen, Primus Verlag, Darmstadt, 1999.
[6] Alexander von Gleichen-Russwurm, Das galante Europa. Geselligkeit der großen Welt, 1600–1789, Hoffmann, Stuttgart, 1910.
[7] Gédéon Tallemant des Réaux, Salongeschichten, Manesse-Verlag, Zürich, 1996.
[8] [Joseph Hall, Mundus alter et idem sive Terra Australis antehac semper incognita, London, um 1605.]
[9] Franziska Hupe, La Carte du Tendre und die Liebeskonzeption bei „Madame de Lafayette“ von Madame de Scudéry, Hausarbeit 2007, http://www.grin.com/de/
[10] Renate Baader, „Heroinen der Literatur. Die französische Salonkultur im 17. Jahrhundert“, in: Bettina Baumgärtel und Silvia Neysters (Hg.), Galerie der starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Klinkhardt & Biermann, München, 1995.
[11] Madeleine de Scudéry, Conversations sur divers sujets, 1868?.
[12] Molière, Les Précieuses ridicules (1659), hg. von Denis A. Canal, Larousse, Paris, 1990.
[13] Alexander von Gleichen-Russwurm, Das galante Europa. Geselligkeit der großen Welt, 1600–1789, Hoffmann, Stuttgart, 1910.
[14] Alexander von Gleichen-Russwurm, Das galante Europa. Geselligkeit der großen Welt, 1600–1789, Hoffmann, Stuttgart, 1910.
[15] Renate Baader, „Heroinen der Literatur. Die französische Salonkultur im 17. Jahrhundert“, in: Bettina Baumgärtel und Silvia Neysters (Hg.), Galerie der starken Frauen. Regentinnen, Amazonen, Salondamen, Ausst.-Kat. Kunstmuseum Düsseldorf, Klinkhardt & Biermann, München, 1995.