(*1969) lebt in Frankfurt am Main und in Rotterdam. Seit 2006 ist er Kurator am Witte de With, Rotterdam.
Welche Orte, Personen oder historischen Ereignisse haben Sie in Deutschland besonders geprägt und warum? LTI - Lingua Tertii Imperii" (1947) von Victor Klemperer (1881-1960). Klemperer offenbart in seinem "Notizbuch eines Philologen" die gesellschaftlichen und politischen Wurzeln sprachlicher Gebilde im Dritten Reich. Das Werk geht zurück auf seine Tagebuchaufzeichnungen die er während der Zeit des Nationalsozialismus notierte. Er analysierte Alltagsgespräche, Zeitungsartikel, persönliche Gespräche, öffentliche Reden und demaskierte LTI als eine Sprache, die sich auf Fanatismus gründet, die ihren Ursprung in der deutschen Romantik hat. Er untersuchte die Ausdrucksformen der LTI, die geprägt ist durch Abbreviaturen ("BDM"), Mechanisierung der Wörter ("gleichschalten"), Maßlosigkeit ("das deutsche Wunder"), Absage an die Vernunft ("abartig") und die Entpersönlichung des Einzelnen ("Mensch Meier"). Es ist schon erschreckend, wenn man bedenkt, wie viele dieser "Sprachkörper" sich im täglichen Sprachgebrauch finden lassen und immer noch verwendet werden. Ein weiteres Standardwerk ist das "Handbuch Antirassismus" (2002) von dem leider viel zu früh verstorbenen Alfred Schobert (1963-2006), der die Arbeit von Klemperer in der Gegenwart fortsetzte.
Warum ist das Projekt "Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik Essen", das internationalen Anspruch mit lokaler Realität verband, gescheitert? Das Konzept, auf dem Gelände der im strukturschwachen Essener Stadtteil Katernberg gelegenen Kokerei Zollverein einen Ort für zeitgenössische Kunst und Kritik zu schaffen, orientierte sich an der Geschichte der Kokerei Zollverein als industrielle Produktionsstätte und verwies auf die sozialgeschichtliche Besonderheit und architektonische Unverwechselbarkeit des Geländes. So sollte die Kokerei Zollverein als Ort einer künstlerischen und sozialen Produktion erhalten bleiben, durch ästhetische Interventionen lebendig transformiert und mit sozialpolitischen Themen wach gehalten werden. Ich verstand das Projekt durchaus auch als Beitrag der zeitgenössischen Kunst zur Strukturwandel-Debatte in Nordrhein-Westfalen, als ein Projekt, das die gesellschaftliche Wirklichkeit thematisierte und künstlerisch verdichtete. Das Jahresprojekt 2003 „Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle“ untersuchte auf künstlerisch-diskursive Weise den öffentlichen Raum und thematisierte die Frage nach den Entstehungs- und Wirkungsweisen von Öffentlichkeit. Das Gelände der ehemaligen Industrieanlage der Kokerei Zollverein war schließlich Jahrzehnte lang eine „verbotene Stadt.“ Das Projekt umfasste drei Ebenen. Zum einen wurde der Übergang der Kokerei Zollverein von der „verbotenen Stadt“ zur „öffentlichen Stadt“ thematisiert. Zweitens sollte der historische Wandel der Kunst im öffentlichen Raum von der Außenskulptur zur Projektkunst der 1990er Jahre deutlich werden, deren Form nicht mehr ausschließlich an den Außenraum gebunden ist, sondern direkt in den Strukturen und Medien der Politik und des Sozialwesens agiert. Und drittens sollte eine Kunstpraxis ausformuliert werden, welche die Grenzen der Projektkunst überschreitet und die „Offene Gesellschaft“ in den Bereichen Kunst und Feminismus, Alltagsleben, Culture Jamming und Stadttheorie erreicht. Das Jahresprojekt „Die Offene Stadt: Anwendungsmodelle“ bestand deshalb nicht in einer Ausstellung von Entwürfen und Vorschlägen zum Thema, sondern war der Ausgangs- und Treffpunkt einer Auseinandersetzung mit Öffentlichkeit und den Modi ihres Entstehens und Wirkens. Den roten Faden durch die künstlerischen Interventionen, Publikationen und Projekte bildete die Frage nach neuartigen Formen von kritischer Öffentlichkeit unter den herrschenden Bedingungen des Neoliberalismus, welcher Kunst und Kultur die Rolle von Lifestyle-Produzenten im Dienste des Distinktionsgewinns zuweist. Diese die Politik absorbierenden Funktionsweisen von Kunst und Kultur galt es – und gilt es immer noch – zu unterbrechen und umzucodieren.
Obschon in der Kokerei Zollverein die BesucherInnen eine andere Dramaturgie erfahren haben, als sonst üblich, war „Offene Stadt“ das letzte Projekt von Kokerei Zollverein | Zeitgenössische Kunst und Kritik. Im Namen korporativer Interessen und nicht zuletzt als Reaktion auf das Projekt von Marko Lulic, welches die nationalsozialistische Geschichte von Zollverein untersuchte, wurden im Dezember 2003 alle bis Ende 2005 laufenden Verträge des Produktionsteams fristlos gekündigt. Dem Romancier Marcel Proust zufolge sind die wahren Paradiese stets die, die man verloren