Die Gesellschaft der Beachtungsexzesse
Von Bernhard Pörksen und Wolfgang Krischke

Wer in der Casting-Gesellschaft bekannt werden will, der ist existenziell auf die öffentliche Wahrnehmung angewiesen. Sein heißt hier zuerst: medial stattfinden. Und man findet statt, indem man – je nach Format, je nach Publikum – das Gewünschte liefert. Geschichten, starke Bilder, Konflikte, illustrative Schicksale, Personen, die Spannung erzeugen, plakative Formulierungen, deutliche Wertungen. Um medial wahrgenommen zu werden, sind Menschen offenbar bereit, Erstaunliches zu tun. Manche knien vor einem Jury-Mitglied von Deutschland sucht den Superstar oder trümmern sich beim Casting eine Gitarre auf den Schädel. Eine Heidekönigin veröffentlichte einst die Ultra-Schall-Fotos ihres noch ungeborenen Kindes und referierte die Details der Zeugung. Ein Politiker (und heutiger Außenminister) tourte mit einem knallgelben Bus durch das Land, malte sich die gewünschten Wahlergebnisse auf die Schuhsohlen und absolvierte einen Auftritt in der Diskursöffentlichkeit des Big Brother-Containers.

Die Beispiele ließen sich endlos vermehren – und zeigen doch eines: In einem sich verschärfenden Kampf um Aufmerksamkeit tauschen die Akteure nicht nur Information, sondern mitunter auch Intimität, Vulgarität oder Stupidität gegen Publizität: Man erzeugt Skandale und Skandälchen, passt sich mit allen Mitteln an gängige Auswahlprozeduren an – und liefert eine Form der Selbstinszenierung, die sich den Regeln medialer Fremdinszenierung beugt. Natürlich kann man einwenden, dass dies alles nicht neu ist und das Phänomen kollektiver Inszenierungslust längst bekannt. Spätestens seit Erving Goffmans Genie-Buch Wir alle spielen Theater kann man wissen, dass unsere alltäglichen Begegnungen, dass jede Interaktion von einem entscheidenden Wirkungs- und Manipulationswillen geprägt sind. Man will sich darstellen, will Unerwünschtes verbergen – und sich dem anderen als derjenige zeigen, der man aus strategischen Gründen sein möchte. Dass dies tatsächlich so ist, kann jeder nachvollziehen, der die inszenatorischen Kapriolen der politischen Klasse des Landes beobachtet. Man kennt und erinnert die Bilder: Helmut Kohl im Sommer bei den Hirschen am Wolfgangsee. Joschka Fischer bei der Vereidigung zum hessischen Umweltminister in Turnschuhen, um die eigenen Anhänger zu beruhigen und ihnen zu signalisieren, dass er auch als Minister nie ganz zum Establishment gehören wird. Der ehemalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping mit der Gefährtin im Pool – ein missglückter Versuch des authentischen Selbstausdrucks, der seine Entlassung beförderte.
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Katalogauszug