John Rajchman |
Die Kunst der Notation Worin besteht die Kunst der Notation, welche Rolle spielt die Notation in der Kunst, und wie wurde die Idee der Notation in philosophischen Debatten aufgegriffen? Im späten 19. Jahrhundert begannen Notation und Notationssysteme eine neue Rolle zu spielen, die für Künstler bis heute höchst lebendig ist. Für die Transkription, Identifikation und Reproduktion von Werken war sie lange bedeutsam. Wieder in die Künste selbst eingeführt, nahm sie nach und nach neue Bedeutungen oder Funktionen an, die die Idee der Kunst selbst, die Art, wie sie gemacht, besprochen, rezipiert wird, verändern half. Notation wurde ein wesentlicher Aspekt des schöpferischen Aktes und dessen, was es bedeutet, kritisch zu denken und zu sehen oder Ideen in den Künsten und mit ihnen zu haben. Sie wurde Bestandteil neuer Vorstellungen vom Zeichnen oder vom Spuren-Hinterlassen, und man assoziierte sie mit mechanischen Formen der Herstellung und Reproduktion von Werken und damit mit einem Massenpublikum. Gleichzeitig führte diese neue aktive, erfinderische, ja kritische Rolle der Notation hinsichtlich der Art und Weise, wie wir in den verschiedenen Künsten denken, zu größeren Veränderungen in Bezug auf solche Begriffe wie System, Struktur, Logik sowie verwandter Ideen davon, was Bilder sind oder Zeichen zeigen, Begriffe, die in derselben Zeit aufkamen, etwa mit der Erfindung der symbolischen Logik, die in der Nachfolge Alan Turings in jene Rechensysteme in einem umfassenderen Sinne einzog, mit denen viele zeitgenössische Künstler heute arbeiten. Wir können diese größere Wende bei allen traditionellen Gattungen oder Medien der Kunst beobachten: bei der Rolle der Textbücher im Theater, der Storyboards im Film, axonometrischer Zeichnungen in der Architektur oder der neuen "nicht-perspektivischen" Räume in der Malerei, Collage oder Assemblage. Zweifellos ist auch die Schrift ein wichtiges Gebiet, auf dem – in der Nachfolge Mallarmés – Druck und graphische Gestaltung inhärente Bestandteile des Gedichtes wurden und eine lange Tradition begründeten, die sich bis zu Marcel Broodthaers und der Konzeptkunst erstreckt. Davon war bereits Walter Benjamin sehr beeindruckt, der Mallarmé nicht einfach nur mit vertikalen und horizontalen Leseräumen, sondern auch mit den neuen politischen Fragen assoziierte, ob sich Dichtung in Büchern oder auf der Straße finden ließe.1 Später befasste sich Jacques Derrida ausgiebig mit der Idee, dass die Schrift, für ihn viel mehr als eine bloße Transkription des gesprochenen Worts, ein ganzes System von "Spuren", Markierungen und Re-Markierungen, von Verzögerungen und Abständen möglich macht, das befreit war von den metaphysischen Ideen wie Selbstpräsenz oder Sich-selbst-sprechen-Hören, das er schließlich den aus der Linguistik abgeleiteten Begriffen Struktur oder System entgegensetzte, ebenso wie vom eher phänomenologischen Begriff der Gestalt. [...] Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 68 |