Eberhard Blum |
Notation und Ausführung Zwei persönliche Anmerkungen [...] Wichtigstes Merkmal westlicher Kunstmusik ist, dass sie aufgeschrieben wird, dass Partituren mit Tonhöhen, Tondauern, Dynamik und Klangfarbe, also geschriebene Darstellungen der Musik, von den Komponisten hergestellt werden. Vokalisten und Instrumentalisten führen diese Partituren dann, den Anweisungen der Komponisten folgend, aus. Das, was mit der Notenschrift dargestellt wird, muss von den Ausführenden erlernt werden. Die Vokal- bzw. Instrumentaltechnik der Ausführenden dient der möglichst genauen Umsetzung dieser Notenschrift in akustische Vorgänge. Hier haben sich im Laufe der Zeit viele Konventionen entwickelt, die unterrichtet und an Generationen von Ausführenden weitergegeben werden. Diese Konventionen beeinflussen sowohl die Komponisten in der Wahl der Zeichen als auch die Ausführenden bei deren Auslegung. Die westliche Notenschrift hat, auch wenn immer wieder Zweifel geäußert werden, höchste Perfektion erreicht und ist für Ausführende ein unerschöpfliches Betätigungsfeld geworden. Als Beispiele seien die Partituren der Partiten für Violine von Bach sowie die des Livre pour quatuor von Boulez genannt. Während viele Komponisten, Ausführende und Theoretiker keine Veränderungen wünschen, haben einigeMusiker andere Vorstellungen davon entwickelt, was ein musikalisches Kunstwerk ist oder sein könnte. Andere Klänge, also anderes hörbares Material, werden verwendet. Die Rolle des Ausführenden im Verhältnis zum Komponisten ist eine grundsätzlich andere geworden. Musikalische Kunstwerke haben eine ganz andere Erscheinungsform, gewinnen ihre Identität auf andere Weise. Morton Feldman spricht sogar davon, dass Musik im 20. Jahrhundert überhaupt erst zu einer Kunstform geworden sei. Eine Konvention der westlichen musikalischen Kunst hat sich allerdings nicht verändert: Nach wie vor gibt es graphische Vorlagen, ich vermeide bewusst das Wort "Partituren", für die Ausführenden, deren Aufgabe nun darin besteht, aus den visuellen Gebilden akustische zu schaffen. Zunächst muss die Frage gestellt werden, ob es Grundprinzipien gibt, die alle graphischen Notationen verbinden, oder anders gefragt: Gibt es graphische Zeichen, die von allen Ausführenden gleich oder zumindest ähnlich umgesetzt werden? Nehmen wir eine horizontale, lange und gerade Linie als Beispiel. Ich glaube, niemand wird auf die Idee kommen, dieses Zeichen als kurzen Klang darzustellen, sondern versuchen, die Länge der Linie auf die Dauer des Klanges zu übertragen. Ebenso ist anzunehmen, dass eine dicke Linie einen lauteren Klang und eine dünne Linie einen leiseren Klang zur Folge haben wird. Verändert sich die Stärke der Linie in ihrem Verlauf, wird dies entsprechende Änderungen in der Dynamik hervorrufen. Auch werden die Prinzipien unserer Schrift beibehalten und Folgen von graphischen Zeichen, wenn nicht ausdrücklich anderes gefordert wird, von links nach rechts gelesen, ebenso wie auf einem Blatt "oben" hoch und "unten" tief suggerieren. Entgegengesetztes würde sicher akustische Verwirrung hervorrufen, genauso wie es ein Verkehrschaos gäbe, wenn bei Verkehrsampeln auf einmal die Farbsignale vertauscht wären. [...] Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 190 |