notation
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Sharon Kanach
Sichtbare Musik
Notationsübertragung im OEuvre von Iannis Xenakis


Faisons du cunéiforme pour transmettre un texte,
ou faisons du cunéiforme parce que c'est joli à voir,
mais il faut savoir choisir.
(Iannis Xenakis)

Lässt sich Iannis Xenakis' (1922–2001) einzigartige Vorreiterstellung innerhalb der nun unmittelbar zurückliegenden Geschichte der Kunst des 20. Jahrhunderts, wenn auch nicht ausschließlich so doch vor allem, damit erklären, dass er sich, bevor er einer der bedeutendsten Komponisten seiner Generation (Boulez, Stockhausen, Ligeti, Foss, Nono, Brown, Feldman, Berio, Crumb…) wurde, zum Ingenieur ausbilden ließ und nachträglich auch als bedeutender Architekt Anerkennung fand? Wie viele Künstler können sich, selbst heute, in diesem Zeitalter der Multi-Media- oder Neue- Medien-Kunst, einer derart vielfältigen formalen Schulung und obendrein der entsprechenden empirischen Praxis rühmen? Bei seinem wiederholten Drängen, die Ausbildung und Schulung neuer, junger Musiker einer Revision zu unterziehen, bildete für Xenakis ein verschiedene Disziplinen umfassender und wirklich neuer proteischer Ansatz die Grundvoraussetzung, wobei er so weit ging, für eine neue Figur, nämlich die des "Künstler-Konzeptors", einzutreten: "Offenbar bedarf es eines neuen Musikertyps, eines 'Künstler-Konzeptors' abstrakter und freier Formen, die zu Komplexität und dann zu Verallgemeinerungen auf verschiedenen Niveaus der Klangorganisation neigen. […] Der Künstler- Konzeptor müsste sich in so unterschiedlichen Gebieten wieMathematik, Logik, Physik, Chemie, Biologie, Genetik, Paläontologie (für die Entwicklung der Formen), Humanwissenschaften und Geschichte auskennen; kurzum, über eine Art universelles Wissen verfügen, aber eines, das auf Formen und Architekturen beruht, von diesen gelenkt wird und sich an ihnen orientiert."
Darüber hinaus ließ seine formale Schulung als Ingenieur, gewiss in Verbindung mit einer natürlichen Begabung und Leichtigkeit, Xenakis zu einem bemerkenswerten Zeichner werden. Er räumte ohne weiteres ein, dass er durch seine Fähigkeit zu zeichnen einen gewissen Vorteil gegenüber seinen Kollegen habe: "Im Rückblick glaube ich, dass es für mich natürlicher war zu zeichnen. Manchmal zeichnete ich, und meine Zeichnungen stellten musikalische Symbole dar. Ich kannte die traditionelle Musiklehre, aber zu einer bestimmten Freiheit des Denkens konnte es so nicht kommen. Ich war überzeugt, dass man eine andere Methode, Musik aufzuschreiben, entwickeln könnte. Ich fing an, mir Klangphänomene unter Zuhilfenahme von Zeichnungen vorzustellen: Spiralen, sich schneidende Flächen usw." [...]

Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 212