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AUSGEWÄHLTE BEKENNTNISSE

Eine Biographie

Die nachfolgende Biographie, verfasst von Roland Groenenboom, ist dem Katalog "Paul Thek - The wonderful world that almost was" entnommen, der anlässlich der Retrospektive des amerikanischen Künstlers erschienen ist [Witte de With, center for contemporary art, Rotterdam (03.06.95-08.10.95); Neue Nationalgalerie, Berlin (07.12.95-18.02.96); Fundació Antoni Tapies, Barcelona (21.06.96-02.09.96); MAC galéries contemporaines des Musées de Marseille, Marseille (15.10.96-15.12.96)]


Am 2. November 1933 wird George Paul Thek in Brooklyn, New York als zweites von vier Kinder eines Ehepaares deutscher beziehungsweise irischer Abstammung geboren. Er wächst als Katholik auf. Später erinnert sich Thek: 'Meine Mutter war schwierig. Ich erinnere mich, daß sie ständig tobte. Es war sehr schmerzvoll... Sie saß häufig im Halbdunkel, trank Bier, Wein, manchmal schrieb sie ein Gedicht: ein melancholisches, kleines, gereimtes Gedicht, hübsch, lieb, von einer glücklichen Familie... Ich zeichnete immer am Tisch im Eßzimmer und fragte meine Mutter, was ich zeichnen solle. Was soll ich zeichnen? Ein hübsches Mädchen, antwortete sie dann.'

1950 - 68 | 1968 - 72 | 1973 - 77 | 1978 - 85 | 1986 - 88

1950-54 1950 studiert Thek an der Art Students League in New York und am Pratt Institute of Arts in Brooklyn. Von 1951-54 studiert er an der Cooper Union School of Arts, New York. Zu seinen Freunden und Kommilitonen gehören der Fotograf Peter Hujar und der Maler Joe Raffaele. Thek beginnt, Gedichte zu schreiben und entwirft Biihnenbilder für ein Studenten-Theater. Er arbeitet als Kellner, Rettungsschwimmer und in der New York Public Library.
Er lebt im East Village, New York und besucht erstmals Cherry Grove auf Fire Island.

1954-58 Thek zieht nach Miami und verdient seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer, Schaufenstergestalter, Aushilfe in einem Buchladen, einem botanischen Garten und als Puppenspieler. Er freundet sich mit Peter Harvey, einem Bühnenbildner, und mit dem Künstler Charles Shuts an. Zusammen ziehen Thek und Harvey zvvischen Florida und der Nordostküste hin und her. 1959 trennen sie sich. In New. York freundet sich Thek mit der Künstlerin Ann Wilson an. Mitte der 50er Jahre entstehen Zeichnungen, vor allem Blumenstudien in Kohle und Bleistift, gefolgt von abstrakten Aquarellen und monochromen Ölbildern mit Blumen. 1957 hat Thek seine erste Ausstellung in der Galerie Mirrell in Miami.

1959-62 Thek lebt in New York. Er verdient seinen Lebensunterhalt als Textildesigner in den Prince Studios. Er lernt die Schriftstellerin Susan Sontag kennen. Sie werden enge Freunde. Sontag widmet ihm später ihr Buch Against Interpretation (1966).
1962 malt er The Birth of Venus (Die Geburt der Venus), das ein an menschliches Fleisch erinnerndes abstraktes Motiv zeigt.

1962-64 Thek reist mit einem Containerschiff über Venezuela nach Europa. Er besucht Norwegen und Holland. In Amsterdam freundet er sich mit dem Maler Franz Deckwitz an. In Rom läßt er sich nieder. Hier lernt Thek Topazia Alliata von der Galerie Trastevere kennen, die auch Piero Manzoni und Pino Pascali zeigt. Alliata macht ihn mit dem amerikanischen Kunsthändler Charles Moses bekannt, der die Galerie 88 in Rom betreibt.
1963 zeigt Thek bei einer privaten Besichtigung in der Galerie Trastevere und in einer Ausstellung in der Galerie 88 seine Arbeiten, abstrakte Landschaften wie auch figurative Bilder von Körperteilen, von denen zumindest eins von einem fernseherähnlichen Kasten eingerahmt ist. Diese letzteren Bilder nennt er Television Analyzations (Fernseh-Analysierungen) und bezeichnet sie als 'Leinwände, die in die Befragung der Realitat durch das mechanische Auge einbezogen sind'. Über diese Arbeiten schreibt er an Peter Hujar: 'Ich bin ganz extrem daran interessiert, die neuen Bilder unserer Zeit, vor allem die Fernseh- und Kinobilder zu verwenden, zu malen. Isoliert und umgestellt bieten diese Bilder eine reiche und für mich aufregende Quelle dessen, was ich für eine neue Mythologie halte. Zusätzlich dazu können Spezialeffekte, wie sie durch Reflexlichter, Doppelbelichtung, Zeitlupe, Unter- und Oberbelichtung entstehen, die Effekte, Bilder, die das Objektiv, mit besonderer Betonung des Zooms, produziert, plötzliche extreme Großaufnahmen, kreativ genutzt werden und haben eine seltsame Dynamik, die ich faszinierend finde. Diese mechanischen Effekte zeigen eine – normalerweise unbemerkte – visuelle Poesie, die man grob genommen im Surrealen ansiedeln könnte.'
Auf Einladung Alliatas hin verbringt Thek den Sommer 1963 mit Hujar zusammen auf Sizilien, wo sie die Kapuziner-Katakomben bei Palermo besuchen. Hujar fotografiert die Katakomben, und die Aufnahmen erscheinen, zusammen mit Portraitaufnahmen von Paul Thek, Susan Sontag, Ann Wilson und anderen, in seinem Fotobuch Portraits in Life and Death (1976). Aus dem in einem Andenkenladen gekauften Gipsmodell der Rüstung eines römischen Kriegers, dem er Farbe und aus Wachs geformte Details hinzufügt, entsteht Theks La Corazza di Michelangelo (Der Panzer Michelangelos).


1964-66
Thek kehrt nach New York zurück. Er und Peter Hujar entdecken Oakleyville, eine abgelegene Gemeinde auf Fire Island, wo sie ein kleines Haus mit Blick über die Bucht mieten. Thek verbringt seine Zeit mit der Künstlerin Eva Hesse, mit Lily Nova, Joe Raffaele, Susan Sontag, dem Kunstkritiker Gene Swenson und Ann Wilson. Zu diesem Kreis zählen später auch noch die Fotografin Sheyla Baykal und der Kunsthändler Moke Mokotoff. Thek stellt seine ersten Abgüsse her. Er gießt seine Genitalien in Gips ab und fügt Silberfolie, Haare und Schmetterlingsflügel hinzu. Er beginnt mit der Arbeit an der Serie der Technological Reliquaries (Technologische Reliquienschreine), Plexiglaskasten mit sehr realistischen Fleischstücken aus Wachs. Außerdem entstehen detaillierte Zeichnungen monströser menschlicher und tierischer Figuren. Die ersten der sogenannten 'Fleisch-Stücke' werden 1964 in Eleanor Wards berühmter Stable Gallery in New York gezeigt, wo auch Robert Indiana, Cy Twombly und Andy Warhol ausstellen. Die Kunstkritikerin Lil Picard kommentiert die Ausstellung in Das Kunstwerk, Dezemberausgabe 1964: 'Es war Realität plus. Perfekt gemacht, auf wahnsinnige Art

 

pervertiert und künstlich. Man fragt sich, warum dieser sehr junge und fähige Handwerker und Grafiker von dieser naturwissen-schaftlichen Hölle von Realitat besessen ist. Wie so viele heute glaubt er an einen derartigen Kommentar zu unserer Zeit. Und in diesem Punkt ist es ein exzellentes Statement.'
1965 lernt Thek Andy Warhol kennen und besucht dessen Factory. Im Anschluß daran präsentiert er Meat Piece with Warhol Brillo Box (Fleischstück mit Warhols Brillo-Karton). 1966 werden die Technological Reliquaries in der Gruppenausstellung The Other Tradition in der University of Pennsylvania, Philadelphia, und in einer Einzelausstellung in der Pace Gallery in New York gezeigt.
Mit der Serie der Technological Reliquaries bezieht sich Thek explizit auf den Minimalismus. In einem Interview mit Gene Swenson in Artnews, April 1966, kommentiert er sie: 'Die Dissonanz der beiden Oberflächen von Glas und Wachs gefallt mir: die eine ist klar und glänzend und hart, die andere ist weich und schleimig. Ich versuche, sie in Einklang zu bringen, ohne einen Bezug herzustellen, oder auch anders herum. Anfangs machte die physische Verwundbarkeit des Wachses die Kästen erforderlich, mittlerweile brauchen die Kästen das Wachs. Die Kästen sind still, ihre Präzision ist wie Zahlen, vernunftgemäß. In einem späteren Interview mit der Kritikerin Emmy Huf in der holländischen Zeitung De Volkskrant vom April 1969 sagt er: 'In New York gab es damals eine so enorme Tendenz zum Minimalen, zum Nicht-Emotionalen, sogar zum Anti-Emotionalen,daß ich wieder etwas über Gefühle, über die häßliche Seite der Dinge sagen wollte. Ich wollte der Kunst die Merkmale rohen, menschlichen Fleisches zurückgeben. Die Leute haben das für einen sado-masochistischen Trick gehalten. An so etwas habe ich nicht einmal gedacht. Aber wenn sie es so sehen wollten, dann ist das für mich in Ordnung: Sado-Masochismus ist zumindest eine menschliche Eigentschaft, ist zumindest nicht von Menschen gemacht. Als ich merkte, daß die Leute mich nur noch als den Mann mit dem Fleisch kannten, habe ich damit aufgehört.'

1966-67 In New York beginnt Thek an einem Abguß seines ganzen Körpers sowie an einer Serie abgegossener Körperteile in Plexiglaskasten zu arbeiten, wobei ihm der Kanstler Neil Jenney assistiert. Es entsteht sein erstes Environment, The Tomb (Das Grab), das aus einem hölzernen, rosa gestrichenen Zikkurat und seinem Körperabguß besteht. Auch The Tomb kann als Parodie auf die Miminal Art gesehen werden. The Tomb beginnt seine Ausstellungsreise 1967 in der Stable Gallery und im Whitney Museum of American Art in New York, wo es in The Tomb – Death of a Hippie (Das Grab – Tod eines Hippies) umbenannt-wird, was Thek ein Dorn im Auge ist. `Das Grab hatte nie etwas mit Hippies zu tun... Die Presse hat das angezettelt', schreibt er auf einer Postkarte an den Kunstkritiker Robert Pincus-Witten. Der schreibt im November 1967 in Artforum: Einerseits findet er [Thek] obsessive und feine Ausflüchte, was die theatralische Konfrontation mit scheinbar nicht vorauszusehenden Situationen und Objekten betrifft, und andererseits versucht er, eine unveränderliche und gelassene Welt zu schaffen, die selbst eine Metapher für Ich-Verlust (Schizophrenie) und Tod (katatonische Paralyse) ist.' The Tomb wird erneut 1968 in der Ausstellung The Obsessive Image
1960-1968 im Institute of Contemporary Art in London gezeigt.
Thek erhält ein Fulbright-Aufenthaltsstipendium für Italien. Er kehrt nach Rom und Sizilien zurück. Er freundet sich mit dem italienischen Schauspieler Sergio dei Vecchi an.


1968 1968 verbringt er seinen ersten Sommer auf der italienischen Insel Ponza, wo er die dortige Landschaft zeichnet und malt. Theks Technological Reliquaries werden auf der documenta 4 gezeigt. Thek und Franz Deckwitz besuchen die Biennale in Venedig, wo Topazia Alliata Thek mit Karl Ernst Jiillenbeck von der Galerie M.E. Thelen in Essen bekanntmacht, der ihn einlädt, eine Ausstellung vorzubereiten. Im Anschluß an Venedig besucht Thek eine Joseph Beuys-Ausstellung in München, die ihn stark beeindruckt. In Rom fertigt er eine Serie von Stühlen und Kästen mit Wachsfleischstücken für seine Ausstellung in der Galerie M.E. Thelen an. Auf dem Transport nach Essen werden die Objekte stark beschädigt. Thek fängt an, sie im Ausstellungsraum zu reparieren. Als die Ausstellung eröffnet wird, ist er damit noch nicht fertig. Nach der Eröffnung fährt er während der Öffnungszeiten der Galerie mit dem Reparieren der Arbeiten fort. Wenn er mit einer Arbeit fertig ist, stellt er sie irgendwo in der Galerie auf. Eine Woche vor Ende der Ausstellung ist er mit dem Restaurieren fertig. Die Ausstellung trägt den Titel A Procession in Honor of Aesthetic Progress: Objects to Theoretically Wear, Carry, Pull or Wave (Eine Prozession zu Ehren des ästhetischen Fortschritts: Objekte, die man theoretisch anziehen, tragen, ziehen oder schwenken könnte). Sie wird zu Theks erstem 'work in progress'.
Thek lernt Birgit Küng von der Galerie Rudolf Zwirner in Köln kennen. Edy de Wilde, Direktor des Stedelijk Museums in Amsterdam, und Pontus Hultén, Direktor des Moderna Museet in Stockholm, laden ihn zu Ausstellungen ein.