notation
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Michel Frizot
Notation als graphische Darstellung und ästhetischer Sprung

Notations lautet der Titel eines "Jugendwerks" von Pierre Boulez aus dem Jahr 1945: ein Zyklus aus zwölf Klavierstücken mit jeweils zwölf Takten, denen eine Zwölftonreihe zugrunde liegt, die in zyklischen Permutationen entwickelt wird. Viele Jahre später griff Boulez dieses Werk wieder auf und schrieb es, immer noch unter demselben Titel, als orchestrierte Erweiterung fort (1980 und 1998). Es hat eine a priori starre Struktur, die zum Teil strengen Vorgaben unterliegt, aber dennoch Raum für Interpretation und Variation lässt. Mit diesem Werk zeigt Boulez eine große Nähe zu den rhythmischen Strukturen und graphisch-notationellen Darstellungen, die Paul Klee zur Grundlage seiner Gemälde machte.
Notation ist aber auch ein Begriff, dem man im wissenschaftlichen Werk von Étienne-Jules Marey (1830– 1904) begegnet, seines Zeichens Physiologe und Professor der Naturgeschichte am Collège de France in Paris, heute besser bekannt als Erfinder der Chronophotographie in den 1880er Jahren und als Entwickler einer mechanischen Vorrichtung, die dem Kinematographen den Weg ebnete. Mareys Hauptinteresse galt den Bewegungsabläufen von Lebewesen, und mit Hilfe von Registriergeräten gewann er aus diesen Bewegungen graphische Darstellungen, Kurven, "Tableaus", welche die subtilen dynamischen Erscheinungen "sichtbar machen", die Mensch und Tier als "bewegte Motoren" kennzeichnen.
Eine Notation kann für Marey sowohl ein Tableau der Gangarten eines Pferdes oder der Aufsetzfläche der Füße eines Menschen beim Gehen sein als auch das Registriertableau der Fingerbewegungen eines Pianisten auf der Klaviatur, wie sie während der musikalischen Darbietung anlässlich eines Vortrags über die "bewegten Motoren" an der Sorbonne im Jahr 1878 "vor den Augen der Öffentlichkeit aufgezeichnet wurden". Durch die in einem solchen Zusammenhang gänzlich unerwartete Verwendung des Terminus "Notation" – oder auch "Tableau" – beschwört Marey in aller Unschuld Begrifflichkeiten herauf, die der Musik, der Kunst und Darstellungen eigen sind, oder besser: Er lehnt sich an seit mehreren Jahrhunderten auf diesen semiotischen Feldern bestehende Konzepte an, um auf diesem festgesteckten Terrain eine neue Wissenschaft der Darstellungen zu zementieren, die er Graphische Methode nennt und deren Hauptverbreiter er mit seinem gleichnamigen Werk aus dem Jahr 1878 ist. Marey – Boulez ist eine der Verbindungen, die die Ausstellung "Notation" zu knüpfen verspricht, indem sie Marey als Urheber, oder zumindest als entscheidende Etappe, der konzeptuellen Entwicklungen geltend macht, die zahlreiche Künstler dazu brachten, Zeichensysteme als potentielle Werke zu betrachten. [...]

Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 55-56