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Reiner Speck
Lesend schreiben
Notat und Niederschrift bei Marcel Proust


Nur war eine der Voraussetzungen meines Werkes,
wie ich es soeben in der Bibliothek entworfen hatte,
die Vertiefung von Eindrücken, die es galt, mit dem
Gedächtnis zu erneuern. Dieses aber war verbraucht.

Marcel Proust, Die wiedergefundene Zeit

Am Anfang stand das Wort FIN – vom Autor viel zu früh in Versalien an das Ende eines Manuskripts gesetzt, das längst nicht fertiggeschrieben war, dessen Vollendung sui generis unmöglich war: Dies belegen die in den letzten Jahrzehnten zunehmend entdeckten Notizen, Entwürfe, Avant-Texte, Korrekturen, Ergänzungen, Varianten – von der angelsächsischen Forschung lakonisch mit "Proust's Additions" bezeichnet. Allzu lange war der deutschsprachigen Leserschaft Marcel Prousts À la recherche du temps perdu in der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens als scheinbar komplettes opus magnum ins Regal gestellt worden. Der kommentarlos seit Beginn der 1950er Jahre sukzessiv in sieben Bänden erschienene Roman hinterließ den Eindruck einer Fassung "letzter Hand", schien wie aus einem Guss geschaffen und zeitgerecht mit des Verfassers Tod am 18. November 1922 abgeschlossen zu sein – bis endlich die kommentierte und in der Übertragung revidierte sogenannte Frankfurter Ausgabe von Luzius Keller einen Einblick in die lange Entstehungsgeschichte ermöglichte. Die Franzosen wussten es freilich viel früher, ihre Literaturwissenschaft hatte längst eine critique génétique betrieben, zu der nunmehr auch die deutschsprachige Forschung seit Jahrzehnten ihren Beitrag leistet.
Mittlerweile wissen wir: Proust hätte sein Werk, auch wenn er nicht schon im Alter von 51 Jahren an den Folgen seines Asthmas gestorben wäre, niemals beenden können, so sehr war es – wie Rainer Warning belegt und unübertroffen formuliert hat – angelegt auf ein "Schreiben ohne Ende". Und angesichts des autographischen Materials, das in Form von Cahiers, Briefen, Jugendschriften, Esquisses oder umgeschriebenen Druckfahnen überliefert ist, sprach Jürgen Ritte vom "Wuchern des Textes" und Gérard Genette von einem Palimpsest, wenn es galt, die écriture des großen französischen Schriftstellers zu charakterisieren. In kaum einem anderen Werk der Weltliteratur wird der künstlerische Schaffensprozess, an dessen vorläufigem Ende der Entschluss steht, mit seiner Schöpfung nun endlich zu beginnen, derart vielschichtig und subtil reflektiert – gegen die rasch und unaufhaltsam vergehende Zeit, gegen einen damit ebenso schnell einhergehenden körperlichen Verfall. Die Suche nach der verlorenen Zeit hielt den Dichter dauernd an zu Ergänzung, Umschreibung, Verfeinerung und Sublimierung des Niedergeschriebenen: Das war kein work in progress, sondern eine permanente künstlerische Tätigkeit. [...]

Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 143