Laurent Mannoni |
Die graphische Methode – eine neue Universalsprache Zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert bildeten sich zwei Typen graphischer Darstellung aus, die bis heute gebräuchlich sind: die auf visuellen, statistischen oder mathematischen Daten basierenden theoretischen Darstellungen und die "realistischen", bei denen ein im Ablauf befindliches Phänomen unmittelbar auf einen Aufzeichnungsapparat einwirkt. Im Folgenden wird von Letzteren die Rede sein. Die insbesondere von dem Physiologen Étienne- Jules Marey (1830–1904) mit Hilfe verschiedener Registriersysteme entwickelte und angewendete "graphische Methode" – nach dem griechischen graphikos (Schrift) – unterscheidet sich von allen anderen so genannten "graphischen Methoden", ob Buchstaben oder Notenschrift, Choreographie, Zeichnung oder Malerei, Photographie oder geometrische Linien usw. Bei der Methode Mareys werden mit Apparaten von oftmals komplexer Mechanik sämtliche Bewegungen aufgezeichnet, die egal welcher belebte oder unbelebte Körper ausführt. Pulsieren, Beben, Schwingen, Erschüttertwerden, Zucken oder Zittern, alles wird auf Papier oder eine andere empfindliche Oberfläche transkribiert, wobei das Subjekt selbst seine Bewegungen einschreibt. "Die Methode erfordert, dass das zu untersuchende Phänomen ein bestimmtes Maß an Bewegungskraft behält, um den Schreibstift in Bewegung setzen zu können." Die so erhaltene Darstellung ist eine Art räumliches Gedächtnis, das Daten über die Variationsbreite einer Bewegung in der Zeit aufbewahrt. Diese Daten können entweder kontinuierlich oder in bestimmten Zeitabständen gewonnen werden. Damit ein Apparat tatsächlich als graphisches Registriergerät gelten kann, muss er also im Prinzip über folgende Elemente verfügen: eine Schreibvorrichtung (Zeichenhebel, Spitze, Stift, Feder, elektrisches Signal usw.), ein Trägermaterial, auf dem die Einschreibung vorgenommen werden kann (berußtes, auf einen Drehzylinder gespanntes Papier, schwingende Platte, rotierende Scheibe usw.), und schließlich einen Empfänger (eine Vorrichtung, um die Bewegung einzufangen: Trommel, Kapsel, Sonde usw.). Das Gerät erzeugt einen Graphen, nach Marey eine "universelle Sprache", die jeder Wissenschaftler auf derWelt entschlüsseln könne. Die Suche nach einer solchen Universalsprache, die nur derjenige verstünde, der ihren Code kennt, lässt sich in Verbindung bringen mit der "Steganographie", jener okkulten Geheimschrift des Johannes Trithemius (1462 –1516), die in einem 1621 veröffentlichten Werk dargelegt wird. Das von dem deutschen Jesuiten Athanasius Kircher 1646 in seiner berühmten Ars magna lucis et umbrae wieder aufgenommene "Artificium Steganographicum" führt dieses Projekt weiter. [...] Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 325 |