notation
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Heidy Zimmermann
Notationen Neuer Musik zwischen Funktionalität und Ästhetik

Die Geschichte der abendländischen Kunstmusik ist mit der Entwicklung einer Notenschrift ohne Zweifel essentiell verbunden. Keineswegs jedoch ist Musik auf schriftliche Fixierung angewiesen. Sie besteht durchaus auch ohne Schrift, gab es doch hochentwickelte Musiktraditionen, die teilweise oder ganz auf Notation verzichtet haben und stattdessen ihre Energie in die Verlässlichkeit mündlicher Überlieferung investiert haben. Erst der Paradigmenwechsel von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit hat aber zwei wesentliche und bis heute qualitätsbestimmende Merkmale mit sich gebracht: die mit der Trennung von Klangvorstellung, schriftlich fixiertem Text und klingender Musik einhergehende Aufspaltung von Komposition und Interpretation sowie die entsprechende Arbeitsteilung einerseits; das Postulat der Originalität, ja in zunehmendem Maße der Innovativität jedes musikalischen Kunstwerks andererseits.
Das Verhältnis von schriftlich fixierter und erklingender Musik bleibt dabei höchst komplex: Die Partitur eines Werks ist ja nicht das Werk, sondern nur eine Aufzeichnung davon, die eine klingende Realisierung ermöglicht. Es wäre allerdings eine Illusion zu glauben, westliche Notation – und sei sie noch so differenziert – transportiere alle Parameter von Musik, die eine Aufführung konstituieren. Vielmehr ist jede Notation das Ergebnis einer Auswahl von Komponenten eines Klangbildes, die wesentlich scheinen für eine adäquate Reproduktion. Seit den Neumen-Notationen des frühen Mittelalters bis in die heutige Zeit spielt die mündliche Begleitüberlieferung von Konventionen, Traditionen und aufführungspraktischen Details bei der Realisierung von notierter Musik eine nicht zu unterschätzende Rolle. Waren die ersten Notenschriften in erster Linie durch die Erfordernisse von Gedächtnissicherung, Kanonbildung, Kontrolle der Überlieferung und Koordination von Mehrstimmigkeit motiviert, so traten später die Kriterien der Kommunikation und der Wiederholbarkeit in den Vordergrund.
In einer fundamental von Schrift bestimmten Kultur ist der kreative Denkprozess zumeist nicht nur mit Sprache, sondern auch mit schriftlichen Artikulationsformen gekoppelt. Erst recht im 20. Jahrhundert ist auch der Kompositionsprozess immer mehr zu einem Akt des Schreibens geworden. Wenn im Folgenden verschiedene Kategorien musikalischer Notationen zur Sprache kommen, dann unter einem doppelten Blickwinkel: Im eng gefassten Sinn geht es um Möglichkeiten der Aufzeichnung von Musik im 20. Jahrhundert; in einem weiteren Sinn werden unterschiedliche Aspekte von Notation im Kompositionsprozess selbst thematisiert. [...]

Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 198