notation
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Peter Weibel
Notation zwischen Aufzeichnung und Vorzeichnung
Handlungsanweisungen – Algorithmen – Schnittstellen


Der Begriff Notation ist in seinem heutigen Gebrauch von einer Spannung der Gegensätze gekennzeichnet. Einerseits gilt die enge Auffassung der musikalischen Notation als Partitur. Andererseits gilt der umfangreichere Begriff der Notation als Aufzeichnung: Fast alles, das sich heute ereignet, wird notiert, das heißt aufgezeichnet. Notation ist ein universaler Begriff geworden: Es gibt vielerlei Aufzeichnungsmedien für allerlei Ereignisse in Raum und Zeit. Töne und Bilder werden aufgezeichnet, Bewegungen und Verläufe in Raum und Zeit. Die modernen Aufzeichnungsmedien beginnen mit der Photographie, einer Aufzeichnungsapparatur, welche die Bewegung in Raum und Zeit graphisch sichtbar zu machen versucht (Étienne-Jules Marey ab 1880). Marey nennt als seinen direkten Vorläufer den Erfinder der Dampfmaschine, James Watt. Dieser konnte nämlich die Bewegung des Dampfes im Inneren des Kessels in Diagrammform graphisch aufzeichnen. Die Beschäftigung mit der maschinellen Bewegung war eine wichtige Quelle für das Aufzeichnungsproblem. Nachdem dieses Problem gelöst war, wurden die maschinellen Aufzeichnungssysteme verwendet, um die Menschen und deren Bewegungen im Umgang mit Maschinen zu verzeichnen, mit dem Ziel, die menschliche und maschinelle Bewegung zu beschleunigen. Frederick Winslow Taylor begann damit etwa zur gleichen Zeit wie Marey. Seine Schüler Frank B. und Lillian M. Gilbreth setzten diese Arbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts fort. Mit ihrem Chronocyclographen konnten die Gilbreths "die Zeit und den Weg individueller Bewegungen bis zum Tausendstel einer Minute" aufnehmen. Frank B. Gilbreth schrieb in Primer of Scientific Management, 1914, eine Antwort auf Taylors Principles of Scientific Management, 1911: "Zeitstudien sind die Kunst des Aufzeichnens, der Analyse und der Synthese der Zeit, die für die Elemente einer jeden Operation nötig ist." Von Bewegungsaufzeichnungen, der Notation des Raumes, führte der Weg zu Notationen der Zeit.
Angeregt von Taylor beschäftigt sich ab 1920 in Russland Alexej Gastew, unterstützt von Lenin, ausführlich mit Fragen der Rationalisierung der Arbeitsvorgänge, die auch er photographisch und filmisch festhält, um sie zu optimieren. Die Analysen von repetitiven Prozessen wie Hammerschlägen und der Bedienung von Maschinen konnten so zu einer Rationalisierung der Arbeit und zur Verbesserung der Arbeitsbedingung beitragen. Die Ära der Maschinen hat also das Repertoire der Notations- bzw. Aufzeichnungssysteme enorm erweitert. Der Begriff der Notation erstreckte sich beinahe auf alle Lebensbereiche. Alle Medien wurden zu Notations- bzw. Aufzeichnungssystemen. Der musikalische Notationsbegriff diente hierbei als Vorbild. Allerdings hat sich der Notationsbegriff der Musik selbst verwandelt und damit die Voraussetzungen für seine Universalisierbarkeit geschaffen. [...]

Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 32