notation
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Hans-Jörg Rheinberger
Acht Miszellen zur Notation in den Wissenschaften

Notation in den Wissenschaften hat viele Facetten. Auf einige möchte ich hier in lockerer Folge zu sprechen kommen und sie an Beispielen aus den biologischen Wissenschaften des 19. und des 20. Jahrhunderts erläutern. Notation oszilliert zwischen ephemerer Unbestimmtheit und endgültiger Bestimmung, es assoziiert sich mit ihr das vorübergehende Festhalten eines Flüchtigen wie auch der definitive Eintrag in einen festen Rahmen. Das Notat kann ein spontaner Einfall sein oder eine auf Dauer geltende Ausführung und Ausfertigung. Und dann ist da noch alles das, was sich zwischen diesen Extremen ereignen und abspielen mag. Doch es gibt etwas Verbindendes, das mit Schrift oder Graphismus im weitesten Sinne zu tun hat.

I. Am Anfang aller Wissenschaft steht die Schrift. In seinem nachgelassenen, von Eugen Fink 1939 zuerst veröffentlichten Fragment über den Ursprung der Geometrie schreibt Edmund Husserl: "Es ist die wichtige Funktion des schriftlichen, des dokumentierenden sprachlichen Ausdrucks, daß er Mitteilungen ohne unmittelbare oder mittelbare persönliche Ansprache ermöglicht, sozusagen virtuell gewordene Mitteilung ist." Und er fährt fort: "Danach vollzieht sich also durch das Niederschreiben eine Verwandlung des ursprünglichen Seinsmodus des Sinngebildes, in der geometrischen Sphäre der Evidenz des zur Aussprache kommenden geometrischen Gebildes. Es sedimentiert sich sozusagen. Aber der Lesende kann es wieder evident werden lassen, die Evidenz reaktivieren." In der iterativen Differenz dieser nachträglichen Reaktivierung von Sinngebilden werden diese aber nicht nur und vielleicht nicht einmal hauptsächlich – was Husserl nicht entgangen ist – ins Licht ihrer primären Evidenzen zurückgestellt, sondern sie werden zugleich auch fortgeschrieben: "In dieser Seinsweise erstrecken sie sich dauernd durch die Zeiten, da alle neuen Erwerbe sich wieder sedimentieren und wieder zu Arbeitsmaterialien werden." Um diese Verwandlungen geht es hier. Dabei ist durchaus nicht nur und nicht in erster Linie an die Schrift im engeren Sinne zu denken, sei sie nun alphabetisch oder anders verfasst. Im Zusammenhang mit den von Husserl selbst als Beispiel aufgerufenen Ursprüngen der Geometrie – der Titel des Aufsatzes ist allerdings Eugen Fink geschuldet – ist es naheliegend, Formen der graphischen Aufzeichnung im weitesten Sinne in den Blick zu nehmen. Solche Graphismen waren gerade in der Geschichte der Mathematik – um nur die Geometrie und die Topologie zu nennen – immer wieder von entscheidender Bedeutung. Die als Notationen sedimentierten Erwerbe werden zu Arbeitsmaterialien, zum Ausgangspunkt von Fortschriften, die dann ihrerseits wieder als Sedimente abgelagert werden können. Jacques Derrida hat diesen Prozess in der radikalen Form einer doppelten De-Autorisierung und eines doppelten Verlustes beschrieben: Verlust der Unmittelbarkeit und Verlust der Präsenz, damit der Stimme des Autors. [...]

Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 279