Yann Beauvais |
Künftige Filme Wie hält man ein filmisches Schaffen fest, das sich jenseits des Narrativen bewegt? So lautet eine der Fragen, die sich Experimentalfilmer und -künstler stellen. Das Unterhaltungskino folgt Formen der Darstellung, die von der Literatur bekannt sind. Die Avantgarde der 1920er Jahre, die sich dessen bewusst war, wollte den Film aus diesem Feld lösen und forderte für die neue Kunstgattung, die das Kino damals noch war, Autonomie ein. Sie strebte ein "cinéma pur" an oder auch den "absoluten Film". Die kinematographische Praxis bedurfte in ihren Augen noch zu entwickelnder eigener Begriffswerkzeuge und Notationssysteme, die keine simple Übernahme von in anderen Medien gebräuchlichen Formen wären. Worin besteht nun die Filmnotation? Die Transkription von Filmen verlangt nach einem Instrumentarium, das ein Erfassen des Films vor und nach seiner Realisierung ermöglicht, vergleichbar der Partitur in der Musik, der Choreographie im Tanz, dem Skript in der Informatik. Dabei dachten die Künstler und Experimentalfilmer ihre Notationssysteme von Anfang an von der Partitur her, doch anders als bei herkömmlicher Musik kam eine große Variationsbreite von Systemen und Codes zum Tragen, die aus der Analyse des Vorbilds und dem Versuch seiner Übertragung auf das Kino erwuchsen. Wer den Film jenseits des Narrativen denkt, der reflektiert auch über die Konstituanten des Kinos selbst: über das Licht, das Filmmaterial, den Kader (also das einzelne Bild auf dem Filmstreifen), aber ebenso über die Vorführbedingungen. Hier spielt das Bildintervall als wesentlicher Bestandteil bei der Aufnahme wie bei der Projektion eine herausragende Rolle. Das Kino wurde damals als "Zeitartikulation" verstanden, um ein Wort Hans Richters aufzugreifen. Die Filmkünstler machten Tabula rasa, um einer neuen Sehweise mit bis dahin unbekannten, unerhörten Darstellungen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Ausschaltung des Diskursiven und die Betonung der visuellen Eigentümlichkeit des Filmstoffs bezog auch die später hinzukommende Tonspur mit ein, weshalb schon in den 1930er Jahren synthetische Töne erzeugt wurden. Mit diesen Entscheidungen einher gingen zwei Positionen in der Filmproduktion selbst. Die Preisgabe der Narration beförderte einerseits die Improvisation, bei der die photographischen Potentialitäten der Bewegung ausgelotet und die filmspezifischen Möglichkeiten während der Aufnahme betont wurden, indem man zum Beispiel die Form des Bildes aufgab. Andererseits mündete sie in den Aufbau von Bezugssystemen, die aus Rhythmus, Melodie, Geschwindigkeit sowie Zeitdauer der Aufnahme und des Abspielens gefügt sind. In allen Fällen gab es zahlreiche Entlehnungen aus der Musik und der abstrakten Malerei. [...] Auszug aus: Hubertus von Amelunxen, Dieter Appelt, Peter Weibel in Zusammenarbeit mit Angela Lammert [Hg.], Notation. Kalkül und Form in den Künsten. Berlin: Akademie der Künste, 2008, S. 135 |