Martin Kippenberger

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Martin Kippenberger: Gebrüder Montgolfier, 1987


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Eva Meyer-Hermann

Broken Off – Unvollständiges, Unfertiges, Abgekürztes und Fragmentarisches bei Martin Kippenberger


„Es ist das durchdringende Gesetz aller organischen und anorganischen Dinge, aller physischen und metaphysischen Dinge, aller menschlichen und übermenschlichen Dinge, aller echten Offenbarungen des Kopfes, des Herzens und der Seele, dass das Leben in seinem Ausdruck erkennbar ist, dass die Form immer der Funktion folgt.“[1]
Louis Sullivan, 1896

Das eher als „form follows function“ bekannte Motto des amerikanischen Architekten Louis Sullivan könnte auch über dem Werk von Martin Kippenberger (1953–1997) stehen. Die Frage nach der Form eines Kunstwerkes ist Ende der 1970er-Jahre, als seine künstlerische Tätigkeit einsetzte, alles andere als geklärt. Nachdem sich die Kunst in Theorien und Konzepten selbst trockengelegt zu haben schien, antworteten viele Künstler darauf entweder mit einer Flut neo-expressiver Gemälde oder mit rückwärtsgewandten Bildmotiven. Kippenberger nahm von Anfang an eine Position ein, die zwar auf den ersten Blick die neue Figuration und die Rückbezüge auf die Avantgarde des 20. Jahrhunderts teilte, sie aber bei näherem Hinsehen hinterfragte und somit erweiterte. Er suchte nach Möglichkeiten „vom Eindruck zum Ausdruck“ (Martin Kippenberger, 1981) zu gelangen, weg von einer Kunst-um-der-Kunst-willen, weg von der Utopie, die Kunst könne das Leben verändern und hin zu einer Kunst als Bedeutungsträger. Seine eigene, heute legendäre Künstlerpersönlichkeit als „Selbstdarsteller“ (Diedrich Diederichsen) war dabei stets untrennbar mit seinem Œuvre verbunden.

Kippenbergers Maßlosigkeit und anmaßendes Verhalten sind bis heute legendär. Zu seinem Repertoire gehörte unter anderem das vielfach kolportierte endlose Erzählen von Witzen, bei der die abschließende Pointe nie das entscheidende Momentum war. Vergleichbar mit der zersetzenden Kraft solcher Aktionen ist auch die Uneindeutigkeit und Offenheit, mit der er sich selbst positionierte. Nicht genug, dass innerhalb von zwei Jahrzehnten eine inflationäre Produktion von Gemälden und Bilderserien, Zeichnungen, Druckgrafiken, Plakaten, Einladungskarten, Büchern, Editionen, Skulpturen, Objekten und Installationen entstand, Kippenberger war ebenso bekannt dafür, in fremden Terrains zu wildern. So machte er Furore als Nachtklubbetreiber, Buchverleger, Schriftsteller und Entrepreneur, Eintänzer, Musiker und Restaurantbesitzer, Museumsdirektor und Kurator. Dabei verlief die direkte Verwertung von Erarbeitetem und Erlebtem parallel zu seinem rastlosen Leben zwischen Hamburg, Florenz, Berlin, Stuttgart, Köln, Brasilien, Spanien bis Los Angeles und Syros. Abbrechen und Weitermachen schien seine Devise zu sein. Das Leben beeinflusste die Kunst und nicht umgekehrt, wie es noch Joseph Beuys, ein anderer großer Selbstdarsteller des 20. Jahrhunderts, postuliert hatte. Beuys’ Gedanke zu einer „Sozialen Plastik“, bei der jeder Mensch ein Künstler sei, wird bei Kippenberger in der Umkehrung zu „Jeder Künstler ein Mensch“.

Sein Ziel, Leben mit Kunst zu verbinden und in sie einfließen zu lassen, war hochgesteckt und trug deshalb die von Kippenberger akzeptierten Möglichkeiten des Scheiterns immer in sich. Der Künstler ließ jedoch nicht davon ab, sondern setzte immer wieder neu an, konstruierte, fügte hinzu, riss ein, fuhr fort, wiederholte sich, brach ab, nur um stets erneut beginnen zu können. [...]


[1] „It is the pervading law of all things organic and inorganic, of all things physical and metaphysical, of all things human and all things superhuman, of all true manifestations of the head, of the heart, of the soul, that the life is recognizable in its expression, that form ever follows function.“ Louis Sullivan: „The tall office building artistically considered”, in: Lippincott’s Magazine, März, 1896 (Deutsche Übersetzung: Andreas Beitin).


Katalogauszug "Extended. Sammlung Landesbank Baden-Württemberg"
Herausgeber: Lutz Casper, Gregor Jansen, erschienen im Kehrer Verlag Heidelberg, 2009

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Werke in der Ausstellung


Martin Kippenberger
From the Misery to the Authority, 1985

Öl und Lack auf Leinwand
160 x 133 cm

Martin Kippenberger
Gebrüder Montgolfier, 1987

Holz, Frottee, Blech, Draht und Gummi
92 x 82 x 312 cm

Martin Kippenberger
ohne Titel, 1990

10 Zeichnungen in Mischtechnik auf Hotelbriefpapier
29,5 x 21 cm

Martin Kippenberger
ohne Titel, 1990

Gießharz, gefärbt
120 x 70 x 30 cm

Martin Kippenberger
Cineastenabgang, 1990

Holz, Leuchtstoffröhre, Teppichboden und Schwamm
40 x 72 x 51 cm

Martin Kippenberger
ohne Titel, 1991

Latex, Acryl und Pigment auf Leinwand
180 x 150 cm

Martin Kippenberger
Don't Wake Daddy, 1994

Holzrelief, Acryl, Lack und Keilrahmen
Relief: 90 x 75 cm; Umzäunung: 114 x 108 x 130 cm

Martin Kippenberger
ohne Titel, 1995

3 Zeichnungen in Mischtechnik auf Hotelbriefpapier
29,5 x 21 cm

Martin Kippenberger
ohne Titel, 1996

2 Zeichnungen in Mischtechnik auf Hotelbriefpapier
29,5 x 21 cm

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Martin Kippenberger
Gebrüder Montgolfier
1987
Holz, Frottee, Blech, Draht und Gummi
92 x 82 x 312 cm
© Estate Martin Kippenberger
Galerie Gisela Capitain, Cologne
Foto: Archiv Sammlung Landesbank Baden-Württemberg


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